28. August 1926 Jever – 14. August 2018 NYC
Eltern: Philipp Sternberg (1894 Neustadtgödens – 1973 Newark, N.J.), Anna –Maria „Jenny“ Sternberg geb. Servos (1897 Anrath – 1989 USA)
Wohnort in Jever: Schlosserstraße 22
„Mein Bruder Gert bestand 1933 die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium, aber die Nazis ließen ihn und noch zwei andere jüdische Jungen nicht zu. Sie wichen auf die Realschule in Wittmund aus, wurden dort von der Hitlerjugend belästigt und konnten dann nur noch auf private jüdische Schulen gehen, in Hannover und Hamburg. Auf Volksschulen durften Juden anfangs noch, ich war an der Schule am Schlosserplatz.
Es hatte alles keinen Zweck mehr, der Viehhandel unseres Vaters machte keinen Umsatz mehr. Wir verkauften das Haus in der Schlosserstraße für die Finanzierung der Auswanderung. Die zog sich hin, zog sich hin. Bezahlte Visa für Peru und Kuba erwiesen sich als großer Schwindel – unser Vater gab Geld aus für nichts! 1938 wohnten wir in einer Bremer Dachwohnung. In der Kristallnacht wurde mein Vater ins KZ Sachsenhausen verschleppt und nach sechs Wochen entlassen.
Dann endlich funktionierende Visa – für Argentinien. Im Dezember 1939 gelangten wir mit der Brenner-Bahn zum Hafen von Genua, faschistisches Italien. Das Schiff hieß „Neptunia“. Aber Vater haben sie aufgehalten. Er hatte großes Glück, später überhaupt noch einen anderen Dampfer zu bekommen.
Ich war froh, lebendig herausgekommen zu sein. Aber habe ich das damals schon verstanden? Kinder sind flexibel und lernfähig. Meine Eltern aber kamen in ein komplett anderes Leben, ohne Fremdsprachenkenntnisse.
Jetzt saßen wir in der Pampa fest. Bildung brachte ich mir über Bücher selbst bei, die zufällig bei einem anderen Flüchtling vorhanden waren. Als 1946 in Argentinien der Faschist Perón an die Macht kam, verabschiedeten wir uns in die USA. Vater arbeitete nun am Fließband einer Autofabrik, Gert als Elektriker. Ich als Bäcker nachts – tags für meinen Schulabschluss. Studierte dann Politik und Geografie. War ja auch schon ganz schön in der Welt herumgekommen …“ (Rolf Sternberg, Interview 12.3.2014)
Nachruf auf Rolf Sternberg
von Hartmut Peters (August 2018)
Am 14. August 2018 erlag Prof. Dr. Rolf Sternberg in New York – wenige Tage vor dem 92. Geburtstag – seinen gesundheitlichen Problemen, sie hatten seit zwei Jahren ständig zugenommen. Diese traurige Nachricht erreichte jetzt den Arbeitskreis GröschlerHaus. Mit Rolf Sternberg ist der letzte der Juden aus Jever verstorben, die es schafften, dem nationalsozialistischen Völkermord an den europäischen Juden durch Flucht in ein sicheres Aufnahmeland zu entkommen.
Rolf Sternberg wurde 1926 als zweites Kind des erfolgreichen Viehhändlerehepaars Philipp und Anna-Maria (genannt „Jenny“) Sternberg in der Schlosserstraße 22 geboren. Der ältere Bruder Gert (1922 Jever – 2007 Kanada) durfte 1933 als Jude nicht von der Volksschule auf das Mariengymnasium überwechseln, obwohl der die Aufnahmeprüfung bestanden hatte. Der jüngere Rolf wurde 1938 der Volksschule am Schlosserplatz verwiesen, weil er Jude war. Als er einmal in das Wasser der Prinzengraft schlidderte, herrschte Klassenlehrer Hans Förster, der das Amt des örtlichen HJ-Führers innehatte, hilfswillige Mitschüler an: „Keiner fasst den dreckigen Juden an!“ Förster setzte später beim Novemberpogrom 1938 zusammen mit anderen NS-Aktivsten die jeversche Synagoge in Brand.
Durch den nationalsozialistisch gesteuerten Boykott der jüdischen Viehhändler ab 1933 brach der betriebliche Umsatz ein. Die Familie Sternberg verkaufte 1936 das Haus in der Schlosserstraße und zog anschließend nach Bremen, um von hier aus die Einreiseerlaubnis in ein aufnahmewilliges Land für die Flucht aus Deutschland zu bewirken.
Während des Novemberpogroms 1938 stürmte die SA die Wohnung der Sternbergs in der Nähe des Bremer Hauptbahnhofs, um Philipp Sternberg zu verhaften. Der zwölfjährige Rolf behauptete – um seinen Vater zu schützen – an der Tür, sein Vater sei im Kino, und wurde mit dem Tode bedroht. Der Vater wurde, wie alle männlichen Juden in Nordwestdeutschland zwischen 18 und 60 Jahren, in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Nach unsagbaren Qualen schließlich aus dem KZ entlassen, glückte die Emigration nach großen Schwierigkeiten erst ein ganzes Jahr später. Und in letzter Minute – als Deutschland mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg bereits begonnen hatte. Von Genua aus brachte der Dampfer „Neptunia“ Anfang 1940 die Familie nach Buenos Aires.
In Argentinien lebten die Sternbergs in einer entlegenen ländlichen Gegend faktisch ohne Bildungsangebote. Der hochbegabte Rolf konnte ab 1938 sieben Jahre lang keine Schule besuchen, eignete sich aber im Selbststudium vielfältiges Wissen an, da ein in der kleinen Siedlung lebender Emigrant regelmäßig Büchersendungen aus Schweden erhielt. Ende 1946 gelang es der Familie aus dem in der Ära Peron faschistisch werdenden Argentinien in die USA überzusiedeln.
Philipp Sternberg arbeitete in einer Autofabrik in Philadelphia. Der praktisch begabte Bruder Gert ließ sich als Elektriker in der Nähe von Toronto nieder. Rolf finanzierte seinen formalen Schulabschluss und das Studium der politischen Wissenschaften, indem er jahrelang frühmorgens als Bäcker arbeitete. Nach ein paar Jahren als Stadtplaner in Boston und nach der Dissertation in Geographie an der Syracuse University (New York) wurde er 1970 zum Professor an der Montclair State University in Montclair, New Jersey, berufen.
Sternbergs Publikationsschwerpunkte waren Wasserkraft, nachhaltige Energie, die Auswirkungen der Energieerzeugung auf die Umwelt und die Rolle der Energie in der Geopolitik. Er war ein auch international bekannter Experte für Wasserkraft im Amazonas-Gebiet. In der Lehre unterrichtete er Geographie, Stadtsoziologie, Nachhaltigkeitswissenschaften und Umweltstudien.
Nach seiner Emeritierung 1993 setzte er die Lehrtätigkeiten bis in das Jahr 2016 fort und ließ sich auch noch im Alter von 89 Jahren zweimal in der Woche mit dem Taxi von seinem Apartment in der Bronx zu seinen Seminaren im auf der anderen Seite des Hudson River gelegenen Montclair chauffieren. In seiner direkten, den Gesprächspartner ernstnehmenden und nie um Ironie verlegenen Art behielt Sternberg immer den „Draht“ zu den Studenten, bis ein Rückenleiden seiner Lehrtätigkeit das Ende setzte
Man konnte mit Prof. Sternberg trefflich über alle politischen und kulturellen Themen diskutieren, noch auf dem Krankenbett war er selbst über Details der deutschen Innenpolitik informiert. In seinen Überzeugungen war er ein Angehöriger der liberalen amerikanischen Ostküsten-Linken. Für ihn war die Präsidentschaft von Obama ein Glücksfall der amerikanischen Geschichte, Trumps Namen nahm er nicht in den Mund, er bezeichnete ihn nur als „Mr. Fortyfive“ (45. Präsident der USA). Er sprach deutsch, englisch, spanisch und portugiesisch.
1984 besuchte er, wie ein gutes Dutzend anderer Juden aus Jever, die den Holocaust überlebt hatten, auf Einladung einer Schüler-Lehrer-Gruppe des Mariengymnasiums den ehemaligen Wohnort. Seit dieser Zeit hat er Jever und seine hier neu gewonnenen Freunde in Abständen von einigen Jahren immer wieder besucht. Zuletzt weilte er im Frühjahr 2014 in der Marienstadt, wurde von Bürgermeister und Landrat im Schloss empfangen und gab am Mariengymnasium eine Doppelstunde Unterricht in Energiepolitik und Nachhaltigkeitswissenschaft.
Dr. Martin Lichte, der stellvertretende Schulleiter, der bei seiner eigenen Doktorarbeit Publikationen Sternbergs ausgewertet hatte, stellte ihn den Schülern vor. Diese erwarteten wohl, dass dieser letzte lebende Jude aus Jever ihnen von seinen Erfahrungen in der Nazizeit berichten würde. Das tat Sternberg dann auch in aller Deutlichkeit, aber erst auf ausdrückliche Nachfrage. Dieses Verhalten war typisch für einen Mann, dem die Verantwortung für die gemeinsame Zukunft im Zeichen des menschengemachten Klimawandels wichtiger war als der Blick in die Vergangenheit. Er sagte immer: „Wer hasst, zerstört sich selbst.“
Rolfs Ehefrau Frances starb vor einigen Jahren, die Ehe blieb kinderlos. Scott Sternberg, ein Sohn des 2007 verstorbenen Bruders Gert, hat sich in den letzten Jahren liebevoll um den kranken Onkel gekümmert. Eine Ära ist zu Ende gegangen.