Lieselott Spitzer geb. Weinstein

2. August 1908 Jever – 25. Oktober 1999 Bournemouth

Lieselott Weinstein im Fenster des Kontors der Firma „S. Gröschler KG“ in der Albanistraße / Ecke Prinzengraft, um 1937 (Sl. H. Peters)

Eltern: Josua Weinstein (1872 – 1926 Jever), Anna Weinstein geb. Neufeld (1881 Hamburg-Harburg – 1941 Ghetto von Lodz)

Wohnort in Jever: Bahnhofstraße 39

„Erst fing ein Geschäft damit an, auf einmal hatten sie alle kleine schwarze Metallschilder „Juden sind hier nicht erwünscht!“ am Eingang. Richtig einkaufen konnte man nur auswärts oder man war auf die Güte von Christen angewiesen. Die jüdischen Familien haben sich da noch enger aneinander angeschlossen, einer ist dann für alle nach Wilhelmshaven gefahren. Ich entsinne mich, dass ich immer erst vor dem Schaufenster stehen geblieben bin und eine Person habe vorbei gehen lassen. Man hat sich umgeguckt, wer hinter einem ist.

Zum Schluss hat einen keiner mehr gekannt und wenn man wirklich mal die Gelegenheit hatte, noch mit jemandem zu sprechen, dann kam immer diese komische Ausrede: Gegen Sie persönlich haben wir ja nichts. Man hat sich ganz in sich zurückgezogen, vor allem hat man Angst gehabt.“

(Lieselott Spitzer, Tonband-Interview  April 1984, Jever; Sl. H. Peters)

Lieselott Weinstein war das einzige Kind des Getreidegroßhändlers Josua Weinstein und seiner Frau Anna, deren Wohn- und Geschäftshaus in der Bahnhofstraße 39 lag. Sie absolvierte das städtische Lyzeum, die sog. Bleeker-Schule im Mooshütter Weg. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1926 führte die zu diesem Zeitpunkt erst 18 Jahre alte Tochter im Auftrage der Mutter die Geschäfte weiter. Zu einem unbekannten Zeitpunkt ging sie die Ehe mit dem nichtjüdischen Kaufmann und Auktionator Wilhelm Süther ein, der den Betrieb übernahm, bis er ca. 1937 aufgelöst wurde. Die Ehe wurde geschieden, da sich Süther und seine Familie in der NS-Zeit von der Jüdin Lieselott Weinstein zunehmend distanzierten.

Danach arbeitete Lieselott Weinstein als Kontoristin bei „S. Gröschler KG“, dem Altstoffaufbereitungsbetrieb der Brüder Hermann und Julius Gröschler an der Albanistraße und bei der Baustoff- und Kohlehandlung von Rudolf Gutentag in der Mühlenstraße.

Beim Novemberpogrom 1938 verschleppte die örtliche SA mit einer Ausnahme alle Jüdinnen und alle Juden der Stadt am frühen Morgen des 10.11.1938 in das Gerichtsgefängnis. Die Frauen wurden nach einigen Stunden unter Bewachung nach Hause entlassen, wo sie dann die Plünderungen anschauen mussten. Die Männer kamen am 11.11.1938 im KZ Sachsenhausen in Oranienburg bei Berlin in Haft, wo sie nach einigen Wochen unter der Auflage, schnell auszuwandern und nichts über die Qualen im Lager zu erzählen, entlassen wurden.

Dieses offen mörderische Fanal führte zu intensiven Auswanderungsbemühungen der zu diesem Zeitpunkt noch etwa 40 in Jever verbliebenen jüdischen Menschen. Auswanderungen waren aber aus Mangel an Devisen, Kontakten und aufnahmewilligen Staaten häufig nicht realisierbar. Unter schmerzvoller Zurücklassung ihrer Mutter gelangte Lieselott Weinstein Ende Mai 1939 über Hamburg und Cuxhaven nach England. 

In England heiratete sie nach dem Krieg Leo Spitzer, einen aus der Tschechosloswakei entkommenen Juden, der bei der britischen Armee gedient hatte. Das Ehepaar lebte in Bournemouth und auf Teneriffa und folgte im April 1984 der Einladung des Schüler-Lehrer-Projekts „Juden besuchen Jever“ am Mariengymnasium an die Holocaust-Überlebenden, eine Woche als Ehrengäste der Stadt  in Jever zu verbringen.

Nach dem Tod des Ehemanns 1988 besuchte Lieselott Spitzer noch zweimal Jever, zuletzt im September 1996, um an der Einweihung des Mahnmals für die ermordeten Juden Jevers in der Frl. Marienstraße teilzunehmen. Das ausführliche Tonband-Interview, für das sie sich 1984 zur Verfügung stellte, ist eine der wichtigsten Quellen über die Situation der jüdischen Menschen in Jever während der NS-Repressionen.

Audio-Auszügen aus den Tonbandinterviews von 1984

Die Schilderungen von Lieselott Spitzer sind das Ausgangsmaterial des von Gina Bremer 2019 geschaffenen Audio-Stadtrundgangs und interaktiven Hörspiels „Verängstigt – verfolgt – vergessen?“ über das Schicksal der jüdischen Frauen in Jever während des Novemberpogroms von 1938.

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