von Holger Frerichs (Schlossmuseum Jever)
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Quellen
- Opfer und Tatort
- Ablauf des Pogroms am 15./16. November 1938
- „Schutzhaft“ in Jever
- Die Bemühungen um Gerechtigkeit während der NS-Zeit und die Folgen für das Ehepaar
- Nachkriegszeit: Der Prozess gegen die Täter und die „Wiedergutmachung“
- Nachbetrachtung
In der Nacht vom 9./10. November 1938 wurden überall in Deutschland die Synagogen in Brand gesetzt und zerstört, zumeist von Angehörigen der NSDAP, SA und SS. Die örtlichen nationalsozialistischen Aktivisten demütigten die Männer und Frauen jüdischen Glaubens, misshandelten sie, beraubten sie der Freiheit, demolierten und plünderten ihre Wohn- und Geschäftshäuser. Ordnungspolizei und Feuerwehren hatten die Anweisung ihrer Vorgesetzten bekommen, dem Geschehen tatenlos zuzusehen und nur einzuschreiten, wo die Gefahr bestand, dass auch „arische“ Nachbarn bzw. deren Eigentum in Mitleidenschaft geraten könnten. Die Geheime Staatspolizei verschleppte nach der Pogromnacht fast 30.000 männliche Juden für Wochen und Monate in verschiedene Konzentrationslager. Eine immer noch nicht geklärte Anzahl von Menschen wurde im Verlauf des Pogroms ermordet, in den Suizid getrieben oder während der Lagerhaft Opfer der Misshandlungen durch die SS.
Auch im Landkreis Friesland unternahmen die Nationalsozialisten in der Kreisstadt Jever und in Varel, wo im Herbst 1938 jeweils noch einige jüdische Bürger lebten und Synagogen standen, gewaltsame Aktionen. Das geschah auch im von Sande nur vier Kilometer entfernten Ort Neustadtgödens, der seit 1972 zum Landkreis gehört. Der Ablauf dieser Pogrome ist mittlerweile recht gut erforscht, zu den genannten Orten gibt es in der ortsgeschichtlichen Literatur und im Internet viele Informationen. In den Archiven existiert eine vergleichsweise dichte Überlieferung. In Jever und Varel wird seit bald 40 Jahren am Jahrestag der Pogrome an das Geschehen öffentlich erinnert, sei es durch Gedenkveranstaltungen oder auch durch Beiträge in der regionalen Presse wie „Jeversches Wochenblatt“, „Nordwest-Zeitung“ und „Wilhelmshavener Zeitung“.
Im öffentlichen Bewusstsein fast unbekannt ist bisher die Tatsache, dass es mancherorts in Deutschland im Kontext der antijüdischen November-Pogrome auch zu Ausschreitungen gegen nichtjüdische Bürger kam. Es handelte sich in der Mehrzahl um Fälle, bei denen die Täter gezielt gegen Menschen vorgingen, denen freundschaftliche Kontakte zu Juden nachgesagt wurden. Manchmal verwechselten die Täter in ihrem terroristischen Eifer die Identität von Personen. Für diesen gezielten Terror gegen „Judenfreunde“ gibt es im Landkreis Friesland ein besonders drastisches Beispiel, das allerdings bis in die jüngste Vergangenheit fast völlig in Vergessenheit geraten war.
Schauplatz war der Ort Sande, damals Teil der Großgemeinde Oestringen, heute eine eigenständige Gemeinde im Landkreis Friesland. In Sande selbst lebten zum Zeitpunkt der Novemberpogrome 1938 keine Juden. Am Vormittag des 10. November 1938 wurden die Juden aus dem unmittelbar benachbarten Dorf Neustadtgödens auf der Ladefläche eines LKW für Viehtransporte zum Bahnhof von Sande gebracht und von dort per Eisenbahntransport zusammen mit den in Wilhelmshaven, Jever und Wittmund verhafteten Juden nach Oldenburg und von dort in das KZ Sachsenhausen bei Berlin verschleppt.
Fünf Tage später, am Abend des 15. November 1938, einem Dienstag, rotteten sich mehrere hundert Sander Einwohner vor dem Haus des Ehepaars Ulrich und Mia Cornelssen in der Sander Hauptstraße zusammen und begannen mit Ausschreitungen. Die Menge skandierte immer wieder Parolen wie „Judenschweine“ und „Judenfreunde“. Die antisemitische Konnotation zeigt den Zusammenhang mit den Pogromen kurz zuvor auf. Beteiligt waren an dem in den Tagen zuvor offenbar vorbereiteten Pogrom sowohl Angehörige der Sander SA wie auch der örtlichen Hitler-Jugend, aber auch sonstige gewaltbereite oder auch nur neugierige Sander „Volksgenossen“. Bemerkenswerte Begleitumstände waren, dass a) es sich bei den Opfern weder um Juden handelte, sowie b) das Datum: Am 15. November lag der Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland bald eine Woche zurück. Die Reichspropagandaleitung der NSDAP hatte zudem schon kurz nach dem 9./10. November 1938 in öffentlichen Erklärungen versucht, den zuvor selbst inszenierten und organisierten angeblichen „Volkszorn“ wieder in den Griff zu bekommen. Noch am Tag des Sander Pogroms war in der örtlichen Presse („Jeversches Wochenblatt“ vom 15.11.1938) in einem Aufruf von Reichspropagandaminister Goebbels zu lesen: „In zahlreichen Städten und Orten des Reiches wurden Vergeltungsaktionen gegen jüdische Gebäude und Geschäfte vorgenommen. Es ergeht nunmehr an die gesamte Bevölkerung die strengste Aufforderung, von allen weiteren Demonstrationen und Aktionen gegen das Judentum, gleichgültig welcher Art, sofort abzusehen.“ Diese Aufforderung hielt die nationalsozialistischen Aktivisten in Sande offenbar aber nicht davon ab, ihren eigenen Beitrag für die Geschichte des NS-Terrors abzuliefern.
Zu den Ereignissen in Sande vom November 1938 sind verschiedene Archivalien überliefert: Schon im Dezember des gleichen Jahres bemühte sich das Ehepaar Cornelssen vergeblich um Schadensersatz, stellte einen Strafantrag gegen Tatverdächtige und beschwerte sich bei der nationalsozialistischen Landesregierung in Oldenburg. Hierzu existiert eine Überlieferung im Niedersächsischen Landesarchiv Oldenburg (NLA).i Nach der Befreiung von der NS-Herrschaft wurden zu den Sander Ereignissen polizeiliche und staatsanwaltliche Ermittlungen unternommen; schließlich kam es 1950 vor dem Schwurgericht in Oldenburg gegen diverse Tatbeteiligte zu einem Prozess wegen Landfriedensbruch. Die umfangreichen Prozessakten sind ebenfalls im NLA Oldenburg überliefert.ii Zwei „Wiedergutmachungsakten“ zum Ehepaar Cornelssen geben weitere Einblicke in das Geschehen. iii
Auf Grundlage der Oldenburger Prozessakten war das Sander Pogrom im Jahre 2003 Gegenstand einer englischsprachigen Veröffentlichung des amerikanischen Historikers Henry Friedlanderiv in der juristischen Fachzeitschrift „Kritische Justiz“, blieb aber wegen des Publikationsorts der lokalgeschichtlichen Forschung bis vor kurzem unbekannt.v
Im Folgenden sollen anhand des Forschungsbeitrages von Friedlander sowie einer Analyse der genannten Quellen im Landesarchiv Oldenburg sowie ergänzender Recherchen die damaligen Geschehnisse in Sande rekonstruiert und der Erinnerung wieder zugänglich gemacht werden.
Der Kaufmann Ulrich Cornelssen, geboren am 29.10.1902 in Wolthusen/Emden, gelernter Kaufmann, war zum Zeitpunkt des Geschehens Besitzer eines Torfstreu- und Düngemittelhandels in Sande. Er war seit 1927 verheiratet mit Mia (Minna Marta) Krummow, Hausfrau, geboren am 22.1.1904 in Ketzin bei Potsdam. Die Ehe blieb kinderlos. Die Eheleute Cornelssen gehörten, wie schon erwähnt, nicht der jüdischen oder einer anderen Religionsgemeinschaft an oder waren jüdischer Abstammung. Im Melderegister Sande ist unter Religionsangabe „Diss[ident]“, also konfessionslos, vermerkt. Das Ehepaar war seit April 1931 in Sande gemeldet und besaß dort ein eigenes Grundstück und Haus in Sande-Neufeld an der Hauptstraße, damals geführt unter der postalischen Anschrift „Sande Nr. 81“ bzw. „Hauptstr. 81“. Das Grundstück befindet nicht weit entfernt von der „Scharfe Ecke“, der Kreuzung der ehemaligen B 210 mit der Hauptstraße. In dem 1925 errichteten, stattlichen Gebäude war zuvor eine Süßwarenfabrik eingerichtet.
Das Ehepaar Cornelssen musste schließlich aufgrund der Anfeindungen ihr Gewerbe in Sande aufgeben und das Hausgrundstück verkaufen. Das Haus wurde 1943 bei einem Bombenabwurf teilweise zerstört; nach dem Krieg und dem Wiederaufbau befand sich im Erdgeschoss von Anfang der 1950er bis Ende der 1960er Jahre die mittlerweile an anderer Stelle im Ort existierende „Falken-Apotheke“. Das heute reine Wohngebäude hat die Adresse Sande, Hauptstraße 19.
Nach eigenen Angaben waren Ulrich Cornelssen bis 1933 Mitglied des „Reichsbanner“ und der „Eisernen Front“, zweier sozialdemokratisch geprägter antinazistischer Organisationen in der Weimarer Republik, und Mia Cornelssen von 1925 bis 1933 Mitglied der SPD gewesen. Ihre Mitgliedsbücher waren bei Hausdurchsuchungen, die in Sande 1933 von der Polizei bei KPD- und SPD-Mitgliedern vorgenommen wurden, beschlagnahmt worden.
Die Eheleute hatten nach dem Ende der Weimarer Demokratie offenbar ihre politischen Aktivitäten aufgegeben, blieben aber weiterhin im Visier der neuen Machthaber: Bei einer im März 1938 von den Nazis inszenierten „Volksabstimmung“, es ging um den „Anschluss“ Österreichs, hätten sich beide geweigert, ihre Stimme abzugeben; an diversen „Geldsammlungen“ des Regimes beteiligten sie sich nicht; in der Wohnung seien zudem „marxistische Schriften und Freimaurerschriften“ gefunden worden, so lauteten damals „Erkenntnisse“ der NS-Stellen über die Cornelssens. Verhasst waren sie in den Augen der Nazis insbesondere auch deshalb, weil Ulrich Cornelssen nachgesagt wurde, bereits vor 1933 in den Niederlanden eine von einem „Juden finanzierte Zeitung gegründet“ sowie nach 1933 noch fortgesetzt u.a. mit dem „Juden de Taube, Horster Grashaus“ (Neustadtgödens) gehandelt zu haben. Bei den Sander Nazis und ihren Mitläufern, also vermutlich bei der damaligen Mehrheit der Sander Bevölkerung, galten sie mithin als unangepasste „Außenseiter der Volksgemeinschaft“, als „Kommunisten“ und vor allem als „Judenfreunde“. Auch wirtschaftlicher Neid im nazistisch geprägten Sander Kleinbürgertum mag eine Rolle gespielt haben, da der Kaufmann Cornelssen als wirtschaftlich erfolgreich galt.
Die örtlichen Nazis betrieben – so die Feststellungen im Nachkriegsprozess – eine „planmäßig geführte Hetze“ und „Verbreitung von unkontrollierbaren Gerüchten“ gegen das Ehepaar. Es gab in Sande viele Feinde des Ehepaars und die Cornelssens „hatten mit der Bevölkerung von Sande nicht den in einem solchen Dorfe üblichen Kontakt; sie lebten verhältnismäßig abgeschlossen für sich“, formulierten es ortskundige Prozesszeugen. Insbesondere Mia Cornelssen hatte im Visier von SA und Hitler-Jugend (HJ) gestanden, da die bei Potsdam geborene Frau den Ortsansässigen als „Berliner Pflanze“ galt und die Reichshauptstadt in einem Provinznest wie Sande nicht besonders populär war. Ein bekannter Berliner Gassenhauer wurde zu einem Schmählied umfunktioniert, das von SA- und HJ-Mitgliedern beim Passieren des Hauses von Cornelssen als Provokation oftmals zu hören war:
„Denkste denn, denkste denn,
Du Berliner Pflanze,
Denkste denn ick liebe dir,
Wenn ick mit dir tanze?
Ach du verrücktes Aas,
Ick liebe dir nur zum Spass,
Denkste denn ick liebe dir,
wenn ick mit dir tanze.“
4: Ablauf des Pogroms am 15./16. November 1938
Am 15. November 1938 versammelte sich abends gegen 20 Uhr eine große Anzahl Sander Einwohner – Männer, Frauen und Jugendliche – nicht weit entfernt vom Haus der Cornelssens. Nach den überlieferten Berichten handelte es sich um eine „mehrhundertköpfige Menschenmenge“, der Sander Ortsgendarm Gösseljohanns schätzte eine Zahl von „200 bis 300 Personen“. Zu diesem Personenkreis zählten vor allem Angehörige der örtlichen SA und HJ. Sie waren auf Weisung ihrer Führer nicht in Uniform, sondern in Zivil erschienen. Hinzu kamen weitere neugierige Teilnehmer aus dem Dorf, hierunter besonders viele Frauen und halbwüchsige Jungen. Organisator der Aktion war der Sander Lehrer Hermann Hartmann, SA-Sturmführer und „Standortältester“ der NS-Organisationen in Sande. Er hatte die SA und HJ zu dem Treffpunkt beordert und die Hitler-Jugend zusätzlich angewiesen, Steine mitzubringen. Dann zog die Menge vor das Haus der Cornelssens, die sich zu diesem Zeitpunkt außerhalb von Sande bei Freunden aufhielten.
Friedlander beschreibt die Menge zutreffend als einen „Querschnitt der Sander Bevölkerung“, ein Prozesszeuge hatte angesichts der versammelten Einwohnerschaft den Eindruck gewonnen, „dass sich damals nahezu das ganze Dorf bei Cornelssen traf“. „In der johlenden Menge fielen Ausdrücke wie ‚Judenfreund‘ und ‚Judenschwein‘“, berichten übereinstimmend diverse Quellen. Der Mob begann, alle Fensterscheiben der Wohnung einzuwerfen, schließlich brachen einige Personen gewaltsam die Tür auf und drangen in das Haus ein, um fast die gesamte Wohnungseinrichtung zu demolieren. Erst dabei stellten die Eindringliche fest, dass sich das Ehepaar Cornelssen gar nicht im Hause befand. Nachdem das Zerstörungswerk verrichtet war, forderte der Rädelsführer Hartmann alle Beteiligten auf, das Haus wieder zu verlassen und verständigte von sich aus die Sander Gendarmeriebeamten. Nach Feststellungen der Nachkriegs-Justiz entsprach ein solches Vorgehen – also die nachträgliche Alarmierung der Polizei – durchaus den „gerichtsbekannten Methoden, die damals bei allen derartigen Aktionen von den Partei- und SA-Dienststellen zum Zwecke der Tarnung angewendet wurden“.
Nachdem die beiden Polizeibeamten – Gendarmeriekommissar Karl Gösseljohanns und Oberwachtmeister Frost – eingetroffen waren, forderten diese die Menge zwar auf, nach Hause zu gehen, unternahmen tatsächlich aber keine weiteren Anstrengungen, um den Pöbel zu zerstreuen. Angeblich um „Plünderungen“ in der ja bereits demolierten Wohnung zu verhindern, beorderten die Polizisten einige – vom Rädelsführer Hartmann ausgewählte – SA-Männer, vor dem Haus Posten zu beziehen. Aus der umstehenden aufgeheizten Menge heraus waren weitere Drohungen zu vernehmen: Die Eheleute Cornelssen waren von ihrem Besuch zwar noch nicht zurück gekehrt, es gab aber Ankündigungen wie „dann wollten sie Cornelssen mit seinem Kraftwagen in den Graben stoßen“. In diesem Zusammenhang hielten einige Aktivisten vorüberfahrende Kraftwagen an und „kontrollierten“ deren Insassen. Auch gegen solcherlei Anmaßungen der Täter schritten die beiden Sander Polizeibeamten nicht konsequent ein.
Morgens gegen 1 Uhr des 16. November 1938 kehrte das Ehepaar Cornelssen mit ihrem Auto nach Sande zurück. Polizist Gösseljohanns stoppte den Wagen und teilte dem Ehepaar mit, der Landrat in Jever wolle sie umgehend sehen, und dirigierte sie rasch zu der nahe gelegenen damaligen NIAG-Tankstelle. Er brachte sie dann in einem anderen PKW nach Jever. Die Fahrt endete für die Cornelssens vor dem örtlichen Gerichtsgefängnis in der Frl. Marienstraße. Erst hier eröffnete Gösseljohanns dem Ehepaar, dass ihre Wohnung demoliert worden sei, sie daher nicht zu Hause bleiben könnten und angesichts der feindseligen Stimmung in der Sander Bevölkerung unter „Schutzhaft“ stünden. Die in den späteren „Wiedergutmachungsverfahren“ geäußerte Vermutung des Ehepaars, der NSDAP-Kreisleiter Hans Flügel in Varel hätte die „Schutzhaft“ der Cornelssens veranlasst, ist eher unwahrscheinlich, da Flügel keine Weisungsbefugnis gegenüber der Polizei besaß. Vermutlich kam die Anordnung aus dem Kreisamt in Jever, wo der Kreisführer der Gendarmerie in Friesland, Paul Lindner, seinen Dienstsitz hatte.
Im Nachkriegsprozess sagte der Sander Gendarm bei seiner Vernehmung vor der Staatsanwaltschaft zu seiner Entlastung aus, die Verhaftung der Cornelssens sei „zu deren eigenen Schutz notwendig gewesen“, da es sonst zu schweren Misshandlungen der beiden Zeugen, möglicherweise „zu Schlimmerem“ gekommen wäre, wie er sich ausdrückte. Gösseljohanns übergab die beiden Eheleute im Gerichtsgefängnis dem jeverschen Justizwachtmeister Diedrich Wille.
Frau Cornelssen soll damals nach eigenen Angaben in den ersten Monaten einer Schwangerschaft gewesen sein und bereits auf der Fahrt nach Jever über Schmerzen geklagt haben. Als sie und auch ihr Mann in Jever um einen Arzt baten, habe Gösseljohanns lakonisch erklärt: „In politischer Haft gibt’s keinen Arzt.“ Auch der Justizbeamte Diedrich Wille soll später auf erneutes Bitten mit den gleichen Worten das Hinzuziehen eines Arztes verweigert haben. Als Frau Cornelssen ihm erneut ihre Schmerzen schilderte, habe er zudem geantwortet: „die Jüdinnen vor einigen Tagen [gemeint ist die Inhaftierung jüdischer Frauen aus Jever während des Novemberpogroms am 10.11.1938, H. F.] seien auch sämtlichst zusammengebrochen“, sie solle sich also nicht so haben.
Das Ehepaar wurde in getrennten Zellen untergebracht. Frau Cornelssen erlitt dort während der Nacht – so weiter ihre Schilderung – eine Fehlgeburt. Am Morgen habe ihr Ehemann alle Spuren dieser Fehlgeburt, einschließlich blutgetränkter Handtücher, in der Toilette des Gefängnisses beseitigt. Im Nachkriegsprozess bestritten Gösseljohanns und Wille allerdings die geschilderten Abläufe im Gerichtgefängnis vehement; es wurde in Zweifel gezogen, dass Mia Cornelssen überhaupt schwanger gewesen sei, geschweige denn eine Fehlgeburt erlitten habe. Nach 38 Stunden Haft in Jever wurden beide Eheleute, angeblich auf Anordnung aus dem Landratsamt, entlassen. Die „Schutzhaft“ in Jever datierte laut Gefangenenregister des Gerichtsgefängnis Jever vom 16. November 1938, 2 Uhr, bis 17. November 1938, 13 Uhr.
Der Sander Gendarm Gösseljohanns verfasste noch unter dem Datum 16.11.1938 einen „Bericht über einen Menschenauflauf und Demolierung der Behausung des Ehepaars Cornelssen“, der zudem einige der bereits erwähnten politischen „Verdächtigungen“ gegen das Ehepaar enthielt und in Abschrift auch der Geheimem Staatspolizei (Staatspolizeileitstelle) in Wilhelmshaven zuging. Das von der Gestapo aufgrund der von Gösseljohanns rapportierten politischen Verdächtigungen gegen das Opfer Cornelssen eingeleitete Verfahren wegen „Vergehens gegen das Heimtückegesetz“ wurde am 26.11.1938 wegen „Mangels an Beweisen“ eingestellt. Im Nachkriegsermittlungsverfahren gegen Gösseljohanns traf der Staatsanwalt zum Tenor dieses Berichts folgende Feststellung: „Die Fassung des Berichts zeigt allerdings, dass der Beschuldigte ein Beamter gewesen ist, der rücksichtslos und übereifrig ganz im Sinne der nationalsozialistischen Systems von seinen Befugnissen Gebrauch machte“.
6: Die Bemühungen um Gerechtigkeit während der NS-Zeit und die Folgen für das Ehepaar
Das Vorgehen des Sander Nazi-Mobs erfüllte auch nach den im NS-Staat geltenden Gesetzen kriminelle Tatbestände wie Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung. Den Eheleuten Cornelssen war vermutlich bewusst, dass sie in einem solchen Fall von NS-Justiz und staatlichen Stellen kaum Gerechtigkeit erwarten konnten und die Täter ungeschoren bleiben würden. Andererseits zeigten sie sich nach ihrer Entlassung trotzdem nicht bereit, die Zerstörungen an ihrem Eigentum, die Freiheitsberaubung wie auch die gesundheitlichen Schädigungen ohne Weiteres auf sich beruhen zu lassen. Mit dieser Zivilcourage gingen sie das Risiko weiterer NS-Repressionen ein.
Frau Cornelssen bemühte sich zunächst um ein ärztliches Attest zu ihrer Fehlgeburt. Sowohl Dr. Anton Jacoby im Willehad-Hospital in Wilhelmshaven als auch der damalige friesländische Amtsarzt Dr. Fritz Hildebrandt hätten entsprechende Untersuchungen bzw. Befunde aber abgelehnt, da sie Frau Cornelssen für nicht glaubwürdig erklärten oder – so die Angaben von Frau Cornelssen zur Reaktion von Jacoby – keinen „Ärger mit der SA“ haben wollten. Hildebrandt und Jacoby präsentierten allerdings, auch dies verwundert nicht, bei den späteren Ermittlungen völlig andere Versionen des Geschehens.
Bereits am 24. November 1938 erstattete Ulrich Cornelssen wegen der Sachbeschädigungen eine Anzeige gegen einige von ihm benannte Tatverdächtige. Das entsprechend pflichtgemäß einzuleitende Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft in Oldenburg blieb folgenlos: Die Gestapo hielt ihre Akten und Informationen zu dem Vorgang zurück, weitere Ermittlungshandlungen wurden seitens der Justiz gar nicht erst unternommen und das Verfahren gegen die benannten Täter schließlich auf Grund eines sogenannten „Gnadenerlasses“ Hitlers vom 9. September 1939 eingestellt.
Am 7. Dezember 1938 wurde Mia Cornelssen persönlich in Oldenburg vorstellig und reichte beim damaligen Ministerpräsidenten Georg Joel eine Beschwerde ein gegen die Inhaftierung, die Versagung ärztlicher Hilfe und das Nichteinschreiten der Polizei bei der Zerstörung ihrer Wohnung. Sie wurden zunächst an den Polizeirat Ahrens verwiesen, der die Beschwerde aufnahm. Sie bat dort, einem Polizeiarzt zwecks Feststellung der abgelaufenen Fehlgeburt vorgeführt zu werden, dies lehnte Ahrens jedoch ab. Am 19. Januar 1939 wurde das Ehepaar schließlich beim Ministerpräsidenten selbst vorgelassen. Georg Joel erklärte in der schriftlichen Zurückweisung der Beschwerde Ende Januar 1939 zynisch: „Die Anordnung der Schutzhaft war notwendig. Ihre Dauer ist nicht zu beanstanden. Die Gendarmeriebeamten und der Gefängnisaufseher haben pflichtgemäß gehandelt (…). Die Herbeiführung einer anderen Einstellung der Bevölkerung von Sande Ihnen und Ihrer Frau gegenüber muss ihnen überlassen bleiben“. Die Beschwerde der Cornelssens wurde als „unbegründet“ zu den Akten gelegt.
Am 9. Dezember 1938 reichte Ulrich Cornelssen beim Landratsamt in Jever wegen des Überfalls auf die Wohnung und der dabei unbestreitbar entstandenen Schäden eine Regressforderung gegen den Staat in Höhe von 1681 Reichsmark ein. Dem Antrag beigefügt war eine detaillierte Schadensauflistung. Mit formalen Begründungen wurde die Bearbeitung des Antrages verschleppt. Erst am 15. Mai 1939 reagierte der Landrat und teilte den Cornelssens in typischer Bürokratenmanier mit: „Im Dezember vergangenen Jahres haben sie einen Antrag auf Ersatz der Ihnen gelegentlich der Judenaktion im November v. Js. zugefügten Schäden gestellt. Der Antrag ist (…) nach dem anliegenden Vordruck zu stellen. Falls Sie Ihren Anspruch aufrechterhalten wollen, gebe ich Ihnen anheim, den anliegenden Vordruck in allen seinen Fragen vollständig zu beantworten (…). Geht bis zum 1.6.1939 eine Mitteilung nicht ein, nehme ich an, dass Sie einen Antrag nicht mehr zu stellen beabsichtigen.“ Interessant ist, dass der Landrat hier selbst einen Zusammenhang zu den antisemitischen Pogromen von 1938 herstellt. Ulrich Cornelssen teilte daraufhin eine Woche später mit, dass er alle seine Ansprüche an seine Ehefrau abgetreten habe; diese hatte wiederum den Anwalt Josef Grünwald in München mit der Wahrnehmung ihrer Interessen beauftragt und forderte den Landrat auf, sich mit Grünwald in Verbindung zu setzen und bemerkte abschließend: „Weiter stelle ich fest, dass Sie zur Beantwortung meines seinerzeitigen Schaden-Ersatz-Antrages sechs Monate gebraucht haben, während Sie mir eine Frist von 7 Tagen diktieren“.
Das Landratsamt sah jedoch keine Veranlassung, von sich aus Kontakt zum Rechtsanwalt aufzunehmen. Die Cornelssens waren offenbar zermürbt und verzichteten angesichts der Ausgangslage auf weitere Bemühungen in dieser Angelegenheit und so konnten schließlich Landesregierung in Oldenburg und das Landratsamt in Jever am 24. August 1939 die „Angelegenheit“ als „erledigt“ betrachten.
Das Verhalten des Ehepaars Cornelssen, nicht die Rolle eines völlig eingeschüchterten Opfers zu spielen, provozierte weitere Anstrengungen der Sander Nazis: Der Ort Sande erlangte – durch einen von der örtlichen SA initiierten Boykottaufruf gegen die Cornelssens im antisemitischen NS-Hetzblatt „Der Stürmer“ sowie durch Erwähnung in der SS-Zeitschrift „Schwarzes Korps“ – auch reichsweit eine aus heutiger Sicht wenig schmeichelhafte Prominenz.
Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges verließen die Cornelssens ihren langjährigen Wohnort Sande und verzogen nach Mecklenburg. Ulrich Cornelssen erklärte dazu im „Wiedergutmachungsverfahren“: „Geschäftlich konnten wir nicht mehr weiterkommen (…). Somit waren wir gezwungen, unseren Betrieb nebst Hausgrundstück in Sande aufzugeben. Wir kauften deswegen ein Anwesen mit Poststelle I (Zentrale für vier Dörfer) in Diedrichshagen bei Grevesmühlen/Mecklenburg. Die Poststelle I wurde uns übertragen.“ Neben dem Betrieb dieser Poststelle im Auftrag der Reichspost versuchte das Ehepaar Cornelssen mit einem kleinen Landhandel seinen Lebensunterhalt zu sichern. Wegen „ungünstiger politischer Beurteilung“, die der Reichspost auf deren Anforderung seitens des friesländischen NSDAP-Kreisleiters Hans Flügel zuging, kündigte die Post allerdings diesen Brotnebenerwerb bereits wieder zum 31.7.1940. 1942 verkaufte das Ehepaar ihr Haus in Diedrichshagen. Laut Meldebescheinigung kehrten die Cornelssens Ende März 1942 aus Mecklenburg wieder in die vorherige Region zurück und zogen nach Wilhelmshaven. Ulrich Cornelssen war unter Mithilfe seiner Frau wieder als selbstständiger Kaufmann tätig und handelte mit Baustoffen und Futtermitteln. Das Ehepaar lebte dort zunächst in der Gökerstraße 118, zuletzt in der Rüstersieler Straße 84.
7: Nachkriegszeit: Der Prozess gegen die Täter und die „Wiedergutmachung“
Bis zum Juni 1946, also mehr als ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung vom NS-Terrorregime, geschah im „Fall Cornelssen“ zunächst nichts. Dann wurden im Zusammenhang mit den Vorfällen in Sande staatsanwaltliche Ermittlungen gegen den weiter im Polizeidienst tätigen Sander Gendarm Karl Gösseljohanns wegen „Freiheitsberaubung im Amte“ durchgeführt. Gösseljohanns, geboren am 2.1.1893, war seit 1933 Gendarmeriekommissar in Sande und seit 1937 NSDAP-Mitglied. Am 10. September 1946 suspendierte die Polizeibehörde Gösseljohanns vorläufig vom Dienst, nach Abschluss der Ermittlungen im Mai 1947 wurde er aber wieder in den Polizeidienst aufgenommen, da aus seinem Verhalten am 15./16. November 1938 nach damaliger Justizsicht kein strafrechtlicher Vorwurf zu machen sei. Gösseljohanns lebte nach dem Krieg in Hude (Landkreis Oldenburg).
Im Zusammenhang mit der Zusammenrottung im November 1938 vor dem Haus der Cornelssens und der nachfolgenden Sachbeschädigungen sollte zunächst im Herbst 1949 ein Strafverfahren wegen „Landfriedensbruch“ gegen weitere zehn Tatverdächtige vor der Strafkammer in Oldenburg stattfinden. Diese Strafkammer erklärte sich im Hinblick auf die Möglichkeit, dass „den Vorgängen der Tatbestand eines Menschlichkeitsverbrechens anhaften könne“, jedoch für nicht zuständig. Das Verfahren wurde deshalb an das Schwurgericht Oldenburg überwiesen (vgl. Meldung in der „Nordwest-Zeitung“ v. 7.10.1949).
Am 15. Februar 1950 fand dort die Hauptverhandlung statt. Angeklagt waren neun Personen aus Sande und Umgebung sowie der jeversche Justizbeamte Wille. Was den allgemeinen Ablauf der Ereignisse – insbesondere die Tatbestände der „Zusammenrottung“, des Hausfriedensbruchs, der Sachbeschädigung sowie der Inhaftierung – anging, gab es im Verlaufe der staatsanwaltlichen Ermittlungen und des Prozesses übereinstimmende Aussagen. Diese Fakten waren eindeutig und ließen sich nicht leugnen.Schwieriger wurde es jedoch für die Justiz, als es um die konkrete Benennung der Täter und die Zuordnung der individuellen Schuld ging. Hier griff nun in dem kleinen Ort Sande das „Gesetz des Schweigens“, was die Aufarbeitung der Geschehnisse während der NS-Zeit betraf: Die meisten Sander Bürger, die als „Zeugen“ – also im weitesten Sinne vermutlich auch „Teilnehmer“ – der Zusammenrottung vernommen wurden, konnten sich plötzlich nicht mehr daran erinnern, wer damals in der Menge neben ihnen gestanden hatte oder wer genau was getan hatte. Dies war natürlich bemerkenswert, da in kleinen Dorfgemeinschaften wie Sande eigentlich jeder jeden kannte. Andere Zeugen machten allerdings ohne Umschweife deutlich, dass sie aus Angst keine Namen nennen wollten, obwohl sie die meisten Beteiligten gut kennen würden. Viele Sander Einwohner bemühten sich zudem, die ganze Angelegenheit – insbesondere wegen der Teilnahme der Hitler-Jugend – lediglich als eine Art „Dumme-Jungen-Streich“ hinzustellen. Die Angeklagten selbst erklärten unisono, zwar irgendwann am Orte des Geschehens gewesen zu sein, sich aber an den Ausschreitungen selbst nicht beteiligt zu haben oder sich sogar im Einzelfall bemüht hätten, weiteren Schaden abzuwenden. Von den neun Angeklagten aus Sande (alles ehemalige NSDAP-, SA- und HJ-Mitglieder) wurden drei „mangels Beweisen“ frei gesprochen, gegen fünf weitere wurde wegen eines Amnestiegesetzes der kurz zuvor gegründeten Bundesrepublik das Verfahren eingestellt. Lediglich der Lehrer und SA-Sturmführer Hermann Hartman, dessen herausgehobene Rolle offensichtlich nicht wegzuleugnen war, erhielt eine geringe Haftstrafe von zehn Monaten Gefängnis.
Der jeversche Justizbeamte Diedrich Wille war in diesem Prozess wegen seines abweisenden Verhaltens gegenüber der um ärztlichen Beistand bittenden Frau Cornelssen wegen „Körperverletzung im Amte“ angeklagt. Wille bestritt allerdings jegliches Fehlverhalten sowie alle von den Cornelssens vorgebrachten konkreten Schilderungen der nächtlichen Ereignisse im jeverschen Gefängnis. Es stand somit Aussage gegen Aussage. Schließlich hielt das damalige Gericht die Aussagen von Wille für glaubwürdiger, denn er galt in den Augen der Richter als „zuverlässiger und pflichtbewusster Beamter“. Wille wurde vom Vorwurf der Körperverletzung freigesprochen. Über das Urteil vor dem Landgericht in Oldenburg berichteten sowohl die „Nordwest-Zeitung“ als auch das „Jeversche Wochenblatt“ am 17. Februar 1950.
Die Beschuldigten und die Urteile
NAME |
PERSONALIEN |
URTEIL |
Hermann Hartmann |
* 6.4.1902, von 1932-1939 Lehrer in Sande, verheiratet, drei Kinder, NSDAP- und SA-Mitglied seit 1933, seit 1938 SA-Sturmführer, während des Krieges befördert zum SA-Obersturm- und Hauptsturmführer. |
10 Monate Gefängnis. 1952 wurde gegen Hartmann, in seiner Eigenschaft als Beamter (Lehrer), von der Dienststrafkammer in Oldenburg unter dem Aktenzeichen „D.Str.K. 10/52“ ein Dienststrafverfahren durchgeführt. Hartmann lebte nach dem Krieg im Brauereiweg in Wildeshausen, unterrichtete an der dortigen Wallschule und war Mitglied im Gemeinderat. Er starb 1960. (vgl. „Nordwest-Zeitung“ Online, 21.8.2006) |
Herbert Conrads |
*26.3.1917, Maschinenbauer, verheiratet, ein Kind, seit 1932 HJ, seit 1938 NSDAP, HJ-Scharführer und Träger des „Goldenen HJ-Abzeichens“. |
Einstellung des Verfahrens (Straffreiheitsgesetz v. 31.12.1949) |
Fritz Winsel |
* 1.7.1909, Lagerarbeiter in Wilhelmshaven, verheiratet, zwei Kinder, SA-Mitglied seit 1933, NSDAP-Mitglied seit 1.5.1937. |
Einstellung des Verfahrens (Straffreiheitsgesetz v. 31.12.1949). |
Heinz Uken |
*20.5.1912, Schlosser Kriegsmarinewerft Wilhelmshaven, verheiratet, ein Kind, NSDAP- und SA-Mitglied seit 1.5.1933, SA-Oberscharführer. |
Freispruch mangels Beweisen |
Ludwig Grundmann |
*23.7.1906, Kesselschmied Kriegsmarinewerft Wilhelmshaven, verheiratet, ein Kind, SA-Mitglied seit 1.7.1933, SA-Spielmannszugführer. |
Freispruch mangels Beweisen |
Ernst Hahn |
*13.10.1902, Wehrmachtsangestellter Kriegsmarine, verheiratet, fünf Kinder, SA- und NSDAP-Mitglied seit 1931. |
Freispruch mangels Beweisen |
Karl Stuaan |
*12.7.1895, Angestellter Kriegsmarinewerft, verheiratet, zwei Kinder, SA-Mitglied seit 1933, NSDAP-Mitglied seit 1937. |
Freispruch mangels Beweisen |
Ulrich Schmidt |
*31.8.1917, Schlosser, verheiratet, zwei Kinder, HJ-Mitglied seit 1933, NSDAP-Mitglied seit 1937. |
Einstellung des Verfahrens (Straffreiheitsgesetz v. 31.12.1949) |
Hans Osterloh |
*8.12.1913, Lehrer seit 1.1.1938 an der Volksschule Sande, verheiratet, ein Kind, SA-Mitglied seit 1.7.1933, NSDAP-Mitglied seit 1.5.1937, HJ-Scharführer, lebte nach dem Krieg in Dötlingen. |
Einstellung des Verfahrens (Straffreiheitsgesetz v. 31.12.1949) |
Karl Diedrich Wille |
*1.1.1874, Justizoberwachtmeister. |
Freispruch |
Gegen die Urteile legte die Staatsanwaltschaft zunächst Revision ein, nahm diese aber für alle genannten Personen außer Hartmann am 29. Januar 1952 zurück. Der Bundesgerichtshof wies schließlich am 21.3.1952 auch die vom Verurteilten Hartmann eingelegte Revision zurück, sämtliche Urteile wurden somit 1952 rechtskräftig.
Im März 1950 erkannte der Kreissonderhilfsausschuss der Stadt Wilhelmshaven Ulrich und Mia Cornelssen als „politisch Verfolgte“ an, sie erhielten auf Grundlage des niedersächsischen „Haftentschädigungsgesetzes“ eine Pauschalsumme von jeweils 150 DM wegen der „Schutzhaft“ in Jever im November 1938. Mia Cornelssen wies in ihrem Entschädigungsantrag übrigens auch ausdrücklich darauf hin, dass die Vorfälle in Sande vom November 1938 in der Sander Bevölkerung noch allgemein bekannt seien als „Sturm auf die Schokoladenfabrik“. Durch einen Vergleich zwischen dem Ehepaar und dem Land Niedersachsen vom 8. April 1958 wurde Ulrich und Mia Cornelssen im Rahmen des „Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der NS-Verfolgung“ schließlich noch eine Pauschalentschädigung von 1500 DM für alle im Zusammenhang mit den Vorfällen im November 1938 entstandenen Schäden an Eigentum und sonstigen damit verbundenen Anwaltskosten etc. zugestanden.
Das Ehepaar betätigte sich in der Nachkriegszeit wieder politisch. In Fortsetzung des antifaschistischen Engagements vor 1933 und wohl auch aufgrund ihrer Diskriminierungen während der NS-Diktatur blieb ihr Ort bei der politischen Linken: Ulrich Cornelssen kandidierte bei den Bundestagswahlen 1961 für die Deutsche Friedens-Union (DFU) auf Platz 40 (von 44 Kandidaten) der Landesliste Niedersachsen. Seine Frau hielt im selben Jahr die Begrüßungsrede bei der Gründung der Wilhelmshavener DFU. Ulrich Cornelssen starb am 15. Juli 1983 in Wilhelmshaven im Alter von 80 Jahren. Seine Witwe, in den Meldeunterlagen mit dem Vornamen Minna Marta geführt, verzog kurz darauf, am 16. August 1983, in ein Pflegeheim in der Hauptstr. 6 von Stollhamm, Gemeinde Butjadingen (Landkreis Wesermarsch).
Sie starb kurz danach am 22. November 1983, im Alter von 79 Jahren. Da offenbar keine Angehörigen bzw. Erbberechtigten bekannt waren, veranlasste 25 Jahre danach das für Nachlass-Angelegenheiten in diesem Fall zuständige Amtsgericht Nordenham eine „Öffentliche Aufforderung“ zur Erbensuche, die allerdings erfolglos blieb. Mit Beschluss vom 4. Mai 2010 wurde schließlich das Erbrecht des deutschen Fiskus festgestellt (Mitteilung des Amtsgerichts Nordenham, 12.01.2016).
Das Sander Pogrom vom November 1938 war vor und nach dem Ende des NS-Regimes ein Dutzend Jahre immer wieder im Ortsgespräch, verstärkt noch einmal im Umfeld des Prozesses von 1950. Danach senkte sich aber der Mantel des Schweigens und Verdrängens über die unrühmlichen Ereignisse. Die forschenden und sammelnden Heimatkundler unternahmen aus verschiedenen Gründen, die einer gesonderten Betrachtung wert wären, keinen ernsthaften Versuch, die Ereignisse von Mitte November 1938 öffentlich aufzuarbeiten, obwohl diese angeblich intern ab und zu beredet wurden. Ähnliches galt lange auch für andere Kapitel der Ortsgeschichte während der NS-Zeit wie Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, politische Verfolgung der Arbeiterbewegung usw., obwohl entsprechende archivalische und biographische Dokumente, aber auch Überlieferungen in der oral history des Ortes nicht erst seit heute zur Verfügung stehen bzw. schon immer standen. Der den Pogrom als eine kindliche Süßigkeitsphantasie verharmlosende Ausdruck „Sturm auf die Schokoladenfabrik“ erscheint signifikant für die Verdrängung des NS-Terrors in der Nachkriegszeit.
Die Prozess- und Entschädigungsakten schlummerten nach Übergabe an das Niedersächsische Landesarchiv in Oldenburg zunächst unaufgearbeitet im Archiv. Der Beitrag des amerikanischen Historikers Friedlander aus dem Jahr 2003, der offenbar als erster die Prozessakten in näheren Augenschein nahm, wurde an abgelegener Stelle publiziert und entging deshalb einige Jahre auch der Aufmerksamkeit der in den 1980er Jahren einsetzenden kritischen regionalen NS-Forschung.Im Rahmen des 2015 begonnenen Projekts der „NS-Erinnerungsorte“ im Landkreis Friesland können nun auch die Sander Ereignisse vom November 1938 ihren Platz in der hiesigen Erinnerungsarbeit finden.
Auf Einzelnachweise im Text wurde verzichtet.
Quellen:
- Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg
- Schlossmuseum Jever
- NWZ-Online
- Sammlung Holger Frerichs
- Stadtarchiv Wilhelmshaven
- Gemeindeverwaltung Sande
- Gemeindeverwaltung Butjadingen
- Amtsgericht Nordenham
Copyright: Holger Frerichs, Hoher Weg 1, 26316 Varel; Version: 27.01.2016
i Wiedergutmachung von bei der „Judenaktion“ (Reichspogromnacht) entstandenen Schäden für nichtjüd. Deutsche und ausl. Juden, 1939-1940; entsprechende Anträge von Geschädigten u.a. aus Sande; in: Nds. Landesarchiv Oldenburg, Bestand 136, Nr. 18392 (H. 8 a, 11-16). Der im Ministerium dazu entstandene Schriftwechsel zur „Beschwerde eines nichtjüd. Ehepaars aus Sande über ihre Inhaftierung mit Darstellung der Verwüstung ihrer Wohnung (Reichspogromnacht) wg. Handels mit Juden“ ist überliefert im Nds. Landesarchiv Oldenburg, Bestand 136, Nr. 3736, Blatt 511-528; Kopien im GröschlerHaus, Zentrum für Jüdische Geschichte und Zeitgeschichte, in Jever
ii Nds. Landesarchiv Oldenburg, Bestand 140-5, Nr. 1193; eine vollständige Kopie der Prozessakten befindet sich im GröschlerHaus Jever
iii Nds. Landesarchiv Oldenburg, Bestand Rep 405 Akz. 2011/013 Nr. 1579 sowie Nr. 1861; eine vollständige Kopie befindet sich im GröschlerHaus Jever
iv Henry Friedlander, ursprünglich Heinz Egon Friedländer, geb. 24.9.1930 in Berlin; gest. 17.10. 2012 in den USA, US-amerikanischer Historiker, Hochschullehrer und Autor. Friedlander, jüdischer Herkunft, überlebte Auschwitz und Neuengamme und ging 1947 in die USA.
v Henry Friedlander: Das Novemberpogrom und die Justiz nach 1945: Eine Fallstudie. – In: Kritische Justiz 36 (2003), S. 354–365. Kurze Erwähnung finden die Sander Ereignisse noch in der Habilitationsschrift von Edith Raim: Justiz zwischen Diktatur und Demokratie: Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945-1949. – München 2013. Raim schildert dort auf S. 845 – in einem Abschnitt über „Straftaten an Nichtjuden“ im Kontext der Pogromverbrechen – in elf Zeilen unter Verweis auf die Prozessakten den Vorfall in Sande.