Ansprache der Projektgruppe am 25. April 1984 im Audienzsaal des Schlosses zu Jever durch Silke Kelling und Antje Naujoks

Übersichtsseite: Besuch der in der NS-Zeit vertriebenen Juden in Jever im Jahre 1984: Dokumentation

 

Liebe Gäste!

Im Namen der Projektgruppe „Juden besuchen Jever ” möchten wir Sie alle herz­lich in Jever begrüßen. Wir freuen uns, dass Sie so positiv auf unsere Einladung reagiert haben und mit uns diese Woche gemeinsam verleben werden.

An dieser Stelle möchten wir an diejenigen denken, die sich ebenfalls über unsere Einladung gefreut haben, aber die Reise nicht antreten konnten oder nicht antreten wollten.Wir möchten an Fritz Levy erinnern, der immer wieder in dieser Stadt den Anstoß gab, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinander zu setzen, so dass dadurch der Verdrängungsprozes unterbrochen wurde. Auch deshalb entstand 1978 am Mariengymnasium erstmalig ein Projektkurs, der sich mit der NS-Zeit beschäftigte. Im November 1982 konnten wir mit Hilfe der von anderen Schülern gesammelten Materi­alien und Dokumente unsere Ausstellung „Zur Geschichte der Juden Jevers” der Öffentlichkeit vorstellen. Aus dieser Ausstellung resultierte zum einen die Besuchsidee selbst und zum anderen das Buch „Verbannte Bürger- Die Juden aus Jever”. Hier möchten wir einen Dank an Hartmut Peters anschließen, der nochmals alle Dokumente, Materialien und neue Infor­mationen zusammenstellte, so dass sie in Buchform erscheinen konnten.

Antje Naujoks und Silke Kelling während ihrer Rede für das Projekt „Juden besuchen Jever“ am 25. April 1984 im Schloss zu Jever (Foto C.-G. Friederichsen)

Seit der Ausstellungseröffnung sind eineinhalb Jahre vergangen, in denen wir Kontakt zu den Emigranten aufnahmen und die Einladungen aussprachen. Während dieser Zeit belastete uns neben vielen anderen organisatorischen Dingen besonders unsere finanzielle Situation. Zu Anfang hatten wir es besonders schwer, mit unserer Idee akzeptiert zu werden und Unterstützung zu bekommen, so dass wir uns unseren Weg regel­recht erkämpfen mussten. Als wir durch öffentliche Anerkennung eine gewisse Seriosität erlangten, besserte sich unsere finanzielle Situation allmählich. Dennoch mussten wir viele Aktivitäten entwickeln, um die Gesamtfinanzierung zu sichern. So führten wir eine Haussammlung durch, veranstalteten Vorträge und Benefiz-Konzerte. An dieser Stelle möchten wir allen Leuten danken, die durch Ihre Musik zur Finanzierung beitrugen.

Auch die Stadt Jever, der Landkreis Friesland und andere Institutionen unterstützten uns. Ebenso spendeten über 400 Bürger in einem ihnen angemessenem Rahmen. Und gerade diesen Spendern sind wir sehr dankbar!!!

Neben der materiellen Unterstützung war uns auch die idelle eine große Hilfe. Wenn sich auch nur wenige aktiv beteiligten, machten uns doch viele Mut, so dass wir trotz vieler Schwierigkeiten und Ungewissheiten unser Ziel erreichten. Vielen Leuten ist es wohl unklar, was unser Ziel war und ist: Dass die Ver­triebenen ihren alten Wohnort wiedersehen, alte Kontakte aufgefrischt werden und über die Vergangenheit geredet wird, anstatt sie tot zu schweigen. So wollen wir nicht nur ein Zeichen der Versöhnung setzen, sondern auch den politischen Akzent, dass so etwas auch in einer kleinen Stadt wie Jever möglich ist.

Jeder von uns hat aus der Projektarbeit persönliche Erfahrungen und Erkenntnisse gezogen. Eine Erfahrung wollen wir hier mitteilen, weil sie uns ängstigt und viel­leicht von allgemeinem Interesse ist.

Blick in den Audienzsaal am 25. April 1984 (Foto C.-G. Friederichsen)

Die heute zu uns nach Jever gekommen sind, waren einmal Deutsche. Ihre Eltern und sie selbst waren in den Vereinen, den Berufsorganisationen, den Pütten, dem Stadt­rat. Die Väter oder Onkel fielen im ersten Weltkrieg fürs Vaterland. Sie hatten einen anderen- einen jüdischen Glauben. Sie waren trotz allem Antisemitismus vor 1933 auf dem Weg zu gleichberechtigten Bürgern, deren kulturelle Identität geachtet wurde. In kurzer Zeit entlarvte sich alles als Illusion. Die Mitbürger jüdischen Glaubens und die, die die Nationalsozialisten zu Juden erklärten, wurden entrechtet, gedemütigt, vertrieben ,industriell ermordet.

Redner behelfen sich an dieser Stelle in der Regel mit der Metapher von der „brau­nen Flut”, doch der Faschismus war keine Naturerscheinung. Menschen taten dies alles! Und zweitens handelten sie unter bestimmten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen. Und drittens noch war 1933 kein Handstreich, kein zufällig geglückter Putsch. Die Nationalsozialisten ergriffen die Macht, die ihnen gegeben wurde von großen Teilen der Industrie und vor allem dem selbständigen, kleinbürgerlichen Mittelstand. Deshalb konnte die NSDAP ja auch im Jeverland, einer Hochburg des Mittelstandes, zum Beispiel im Mai 1932 64% der Wählerstimmen erzielen. Der Nationalso­zialismus wuchs auf einer Gesellschaftsform, in der wir auch heute wieder leben. Unsere Region – im wirtschaftlich blühenden Kaiserreich und in den guten Jahren Weimars fest in der Hand der demokratischen Parteien – hob die Hand für die Barbarei, nur weil die Geschäfte nicht mehr so liefen. Und nach 1945, in der Zeit Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders, wurde unsere Stadt und ihr Umland ganz schnell wieder zu einem Mustergebiet liberaler Bürgerlichkeit.

Über die nationalsozialistische Vergangenheit wird hier erst seit drei Jahren öffentlich gesprochen. Mangel an Nachdenken, Verdrängung und Schweigen ärgern, be­unruhigen oder machen fassungslos nur. Dagegen macht uns Angst, dass sich ja alles wiederholen kann, bestimmt in einer anderen zeitangepassten Form und sicherlich nicht an den Juden. Seit Beginn der neuen Wirtschaftskrise zeigen sich wieder und immer noch antidemokratische Tendenzen in unserer Gesellschaft bis hin zu Faschismen, und wiederum sind sie gegen bestimmte Personenkreise oder Denkweisen gerichtet.

Wir haben allen Grund, aufzupassen!

(Wiedergabe nach dem Originalmanuskript, Sammlung H. Peters)