von Hartmut Peters
Im Oktober 1918 – nach vier erfolglosen Kriegsjahren – konnte sich der autoritäre Staat Wilhelminischer Prägung angesichts des Ausbleibens des Friedens und der großen Not der Bevölkerung, die den Starrsinn der Obrigkeit mit dem Tod der Söhne ausbadete, in alter Form absehbar nicht mehr halten. Die Herrschenden räumten gewisse Zugeständnisse ein, und auch das Großherzogtum Oldenburg konnte nicht abseits stehen. (1) Als beschleunigendes und klärendes Ferment der sozialen und politischen Gärungen traten an den Küsten die häufig sozialistisch eingestellten Matrosen und Soldaten auf, die sich von der dünkelhaften Offizierskaste verheizt fühlten. Im November 1918 machten sie aus der gnädig vom Kaiser eingeräumten Parlamentsreform Makulatur und lösten eine ganze Vielfalt von Entwicklungen aus. Das Ergebnis war die Abdankung von Wilhelm II. am 9. November 1918 und schließlich, am 11. August 1919, die Konstitution der ersten deutschen parlamentarischen Demokratie. Zwischendurch wurde für eine sozialistische Republik gestritten und Kommunisten wollten – nach dem Vorbild der russisches Oktoberrevolution von 1917 – handstreichartig die Diktatur des Proletariats durchsetzen. Das Großherzogtum Oldenburg wurde zum Freistaat, ab Juni 1919 ebenfalls mit einer parlamentarisch-demokratischen Verfassung ausgestattet. In einer Zeit davor hatte die basisorientierte Rätedemokratie geherrscht und auch im Jeverland besaßen bewaffnete Arbeiter und Soldaten die Staatsmacht, die sie über Versammlungen, Abstimmungen und imperative Mandate ausübten.
Nach der Meuterei auf der Hochseeflotte vor Schillig Ende Oktober 1919 übernahmen Zehntausende von Soldaten am 6./7. November 1918 in Wilhelmshaven, dem wichtigen Marinestützpunkt, die Macht und bildeten einen Exekutiv-Ausschuss, den „21er Rat“, der wenig später die Räte-Republik Oldenburg-Ostfriesland ausrief. Bis zur Besetzung der Doppelstadt Wilhelmshaven/Rüstringen durch Truppen der mehrheitssozialistisch ausgerichteten neuen Regierung in Berlin am 21. Februar 1919 war dieser unabhängig sozialistisch ausgerichtete Rat die wesentliche regionale Kraft im Umwälzungsprozess.
In Jever fand, parallel zur Entwicklung in Wilhelmshaven, bereits am 6. November abends im „Schützenhof“ eine vorbereitende Versammlung zur Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates für Jever (ASRJ) statt. Am nächsten Abend wählten hier weit über 1.000 Arbeiter und Abgeordnete von Truppenteilen einen Rat von zehn Personen für Jever, Schortens und Heidmühle nach dem Muster des Wilhelmshavener Rats. Gewählt wurden für Jever die „Genossen“ Janßen, Eden, Mondorf und Schönholz. Die Versammlung forderte in einer Entschließung die „Beseitigung der Monarchie“ und die „Errichtung der sozialistischen Republik“. Die neuen Machthaber stellten die lokale Tageszeitung, das „Jeversche Wochenblatt“ (JW), unter eine Vorzensur (JW, 8. 11.), die aber bereits zwei Tage später nach Einspruch der Zeitung vom ASRJ „als den freiheitlichen Bestrebungen der revolutionären Bewegung zuwiderlaufend“ aufgehoben wurde. Die Zeitung sicherte ihrerseits eine „objektive Berichterstattung“ zu. (JW, 10. 11. 1918)
Die revolutionäre Versammlung war vom 21er Rat einberufen worden, der sich Jever zur Sicherung des Hinterlandes angliederte. Ein Obermatrose aus Wilhelmshaven gab Instruktionen und „. . . ermahnte immer wieder zur größten Ordnung und Unterdrückung von Gewalttätigkeiten.“(2)
Unblutig ging es dann auch tatsächlich zu: Am 8. November unterstellte der ASRJ Rathaus, Amtsverwaltung, Post, Bahnhof und die Kämmerei seiner Kontrolle, indem dort Mitglieder vorsprachen. Spätestens jetzt wurde die rote Fahne am Schloss gehisst. Sechs Tage später akzeptierte der Stadtrat die neue Ordnung und fuhr in seinen Sitzungsgeschäften fort – jetzt allerdings unter dem Kontrollrecht der Arbeiter und Soldaten. Der Chef der Stadtverwaltung, Bürgermeister Dr. Hans Urban, lobte bei dieser Gelegenheit sogar die „Ruhe und Ordnung“ der Neugestaltung (JW, 15. 11. 1918). Im Februar nächsten Jahres, als die Räte entmachtet waren, blickte derselbe Beamte zurück: „Aus der Mitte unserer Bürgerschaft droht uns keine Gefahr. Wir haben hier mit dem A.- und S.-Rat in friedlicher Weise zusammengearbeitet.“ (JW, 5. 2. 1919)
Urbans Kollege in der Amtsverwaltung Jever jedoch, Amtshauptmann (heutige Bezeichnung Landrat) Emil Mücke, behinderte die Arbeiter- und Soldatenräte und wurde auf Beschwerde des zentralen ASRJ am 20. Dezember 1918 abberufen und dem Revolutions-Direktorium in Oldenburg „zur Hilfeleistung“ zugewiesen. Dies ist „die einzige Absetzung oder Versetzung eines Chefs der unteren Staatsbehörde während der Revolution in Oldenburg . . . auf Druck der Räte.“ (3) Zur Prüfung der Vorwürfe gegen Amtshauptmann Mücke bildete eine Versammlung am 16. November in Jever zunächst eine Kommission, obwohl doch die Machtfrage entschieden war und Mücke offensichtlich sabotierte. (JW, 19. 11.) In Schortens, das von seiner Sozialstruktur her wesentlich mehr als Jever von der Wilhelmshavener Werft und dem Arbeitermilieu geprägt war, forderte man auf einer ähnlichen Versammlung ohne Umschweife die Absetzung Mückes, was das angemessene Machtbewusstsein aufzeigt. (JW, 20. 11.)
Ein über die unterschiedlichen revolutionären Mentalitäten aufschlussreicher Konflikt entstand am 11. November 1918 zwischen zwei Räten. Vom ASRJ dazu beauftragte Bahnbeamte wollten nicht dulden, dass zwei Matrosen aus Schillig ab Jever zweiter Klasse nach Wilhelmshaven weiterfuhren, obwohl sie nur die dritte bezahlt hatten. Mit 20 Mann in Waffen begab sich der Soldatenrat Schillig, der die Strecke bis Jever kontrollierte und als „sehr radikal“ galt, per Sonderzug gen Jever. Die Streitmacht der „Freien Republik Hohenkirchen“ (4) wurde allerdings schon auf dem jeverschen Bahnhof von einer Übermacht des vom ASRJ in Bewegung gesetzten Landsturmes empfangen, so dass eine „gütliche Einigung“ erzielt wurde. (JW, 12. 11. 1918)
Auch in den anderen Gemeinden des Jeverlandes bildeten sich schnell Räte. Zeitgleich mit Jever wählte in Sillenstede am 7. November eine Versammlung in Beckers Gasthaus einen Arbeiterrat von drei Personen, bestehend aus Friedrich Gabriels, Gottlieb Meyer und Anton Flick. Ab dem 18. November 1918 schritt man für die bis jetzt abseits stehenden reinen Agrargemeinden zur Bildung von Gemeindebauernräten. (5) Nach einem bestimmten Schlüssel schickten die Gemeinden Vertreter in den überörtlichen ASRJ, wenn dieser seine Vollsitzungen hatte. Ab Ende November haben vermutlich auch zwei bürgerliche Vertreter aus dem vom ASRJ geduldeten „Bürgerausschuss“ Sitz und Stimme im ASR der Stadt Jever genommen; dies kann man für einen Vertreter der Angestellten fest annehmen. (6)
Der ASRJ gab sich folgendes Organisationsschema: „1. Kontrolle der Amtsgeschäfte, 2. Kontrolle und Verteilung der Lebensmittel, 3. Kontrolle der Stadtgeschäfte, 4. Verteilung von Brennstoffen, 5. Sicherheitswesen, 6. Delegation für zentrale Tagungen, gleichzeitig Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats.“ (7)
Als wesentliche Aufgabe des ASRJ bezeichnete sein Vorsitzender, der Bauaufseher Hinrich Eden, auf einer Informationsveranstaltung „die Kontrolle und Bessergestaltung der Lebensmittelverteilung durch Ausschaltung unzulässiger Bevorzugungen und Schiebungen“. (JW, 14. 11. 1918) Deshalb führte der Rat am 10. November Beschlagnahmungen größerer, illegal geschlachteter Fleischmengen durch, beruhigte aber im selben Atemzug über eine Zeitungsanzeige die erschreckte Bürgerschaft, dass keine Hausdurchsuchungen geplant seien. (JW, 14. 11. 1918) „Die Tätigkeiten der örtlichen Räte umfassten neben der Kontrolle und Beaufsichtigung der Behörden in erster Linie solche, die als soziale und wirtschaftliche Interessenvertretung der breiten Bevölkerungsschichten zu bezeichnen sind,“ schreibt Wolfgang Günther in seiner Analyse der Revolution von 1918/19 im Staat Oldenburg. (8) Viele Hinweise im „JW“ über die Praxis der jeverländischen Räte bestätigen diesen Befund. In Jever schob der Rat auch die Gründung eines Jugendvereins an und setzte sich für die schnelle Einführung des Arbeitstags von acht Stunden ein.
Günther spricht von einer – von den kriegsbedingt aus ganz Deutschland in den Küstenstädten zusammengezogenen Matrosen und Soldaten – ins Oldenburgische „importierten Revolution.“ Sicher war die Situation im agrarisch dominierten Jeverland 1918 im politischen und sozialen Sinne nicht revolutionär. Aber vielleicht sollte man eher von einer „verursachten Revolution“ sprechen.
Die Grundkonflikte der Gesellschaft wurden auch in Jever engagiert und mit großer Meinungsvielfalt diskutiert und die Menschen waren offenbar gut informiert. Eine Reihe von Mitgliedern des ASRJ war auf der Marinewerft in Wilhelmshaven tätig, so also im direkten Herrschaftsgebiet des „21er Rates“. Mindestens sechs der zehn Räte gehörten den Mehrheitssozialisten (MSPD) an, einer war sogar bis zu seinem Übertritt Freisinniger. (10) Wenn man mag, kann man den ASRJ im Einklang mit Günther (11) als „radikal“ einstufen, weil das Marienstädtchen eben im Einfluss „des auch Jever kontrollierenden A.- u. S.-Rates Wilhelmshaven“ lag, wie ein Zeitgenosse anmerkte (JW, 16. 11. 1918), und weil andere Räte Oldenburgs noch gemäßigter waren.
Das bürgerliche Lager der Marienstadt zerfiel Ende 1918 in zwei Teile. Der eine, repräsentiert durch den nationalliberalen Chefredakteur des „Jeverschen Wochenblatts“ Hermann A. Reinhardt und den freisinnigen Gymnasialprofessor und Stadtratsvorsitzenden Dr. Heinrich Ommen, sah ohnehin keine Alternative zur Lösung der Krise und war zu „wohlwollender Neutralität“ (JW, 26. 11. 1918) bereit. Durch Kooperation auf der Basis der Anerkennung der Machtverhältnisse wollte er die „spartakistische Gefahr“ bannen und auf die parlamentarische Demokratie zusteuern. Besonders Reinhardt bezog in öffentlichen Versammlungen engagiert Stellung für eine solche Transformation der Revolution unter gemäßigten SPD-Vorzeichen in eine geordnete Demokratie. Der rechtsradikale Teil, mit dem antisemitischen Studienrat Dr. Oskar Hempel an der Spitze, versuchte bereits jetzt durch Taktieren den ASRJ zu schwächen und mittels persönlicher Vorwürfe Demokraten wie Reinhardt zu verleumden. (12)
In der Konsequenz seiner politischen Position wurde Reinhardt zum 1. Januar 1919 vom Herausgeber Enno Mettcker in der Schriftleitung des „JW“ durch den überregional bekannten völkisch-nationalen und „alldeutschen“ Friedrich Lange ersetzt. Das erwies sich als eine einschneidende und für die Zukunft bedeutsame Veränderung der politischen Landschaft. Lange brachte, sobald die Räte keinen Machtfaktor mehr darstellten, die Zeitung auf scharf antisozialistischen Kurs und gestaltete sie ab Mitte 1919 zum publizistischen Flaggschiff und Vorreiter der antidemokratischen, antisemitischen völkisch-nationalen Bewegung im gesamten Oldenburger Raum. (13) (siehe auch: Das Jeversche Wochenblatt von 1919 bis 1945: Vom Wegbereiter des Nationalsozialismus zum Herold des „Endsiegs“)
Die Verhältnisse wurden ab Anfang 1919 bereits im Vorfeld der Wahlen zur verfassungsgebenden Weimarer Nationalversammlung zügig normalisiert. Das sich parallel zur Republik entwickelnde Oldenburg entließ die Arbeiter- und Soldatenräte aus ihrer politischen Funktion und wandelte sie danach zu reinen Interessenvertretungen der Arbeitnehmerschaft um, die ab August 1919 auf Landesebene in der Form eines „Landesarbeiterrats“ angesiedelt waren. (14) Diesen Reflex der einstigen Räteherrschaft tilgten 1933 dann die Nationalsozialisten endgültig.
Widerstand gegen die Abwicklung der Arbeitermacht kam von den Spartakisten. Auf Wangerooge ereignete sich am 15. Januar 1919 folgendes: „Am Freitagnachmittag kamen im Osten der Insel drei Dampfer an und landeten dort etwa 40 Marinesoldaten. Diese kamen zum Dorf und besetzten die Jadebatterie, die am Tage zuvor die Handwaffen abgegeben hatte. Gleichzeitig wurden Post, Bahnhof und Signalstation und Friedrich-August-Batterie besetzt. Der Führer, der frühere Vorsitzende des Soldatenrats, Unasch, gab an, im Auftrage des 21er Rats zu kommen, um 3.000 Gewehre, Munition, Minenwerfer, Proviant und Kohlen zu holen und nach den Bremen zu bringen. Die 40 Mann, die alle bewaffnet waren, ordneten sofort den Abtransport an. Einige Tausend Gewehre waren bereits zum Bahnhof gebracht. Inzwischen hatten sich die Insulaner zur Friedrich-August-Batterie begeben, von der dortigen Besatzung Gewehre und Munition erhalten; sie rückten zur Jade-Batterie aus und nahmen diese nach einem kurzen Feuergefecht wieder ein. Alle 40 Mann wurden gefangen genommen und die Dampfer besetzt.“ (JW, 16.1.1919)
Die Spartakusputsche der Umgebung in Delmenhorst, Bremen und vor allem Wilhelmshaven tangierten auch das Jeverland. Am 27. Januar 1919 besetzten rund 400 Kommunisten aus Bremen und Wilhelmshaven den Bahnhof der Doppelstadt Wilhelmshaven-Rüstringen, die Post, das Fernsprechamt, die Reichsbankstelle, deren Gelder sie konfiszierten, und die beiden Rathäuser. Noch am gleichen Tag setzten Decksoffiziere und Soldaten der Marinegarnison mit Waffengewalt wieder die vorherigen Machtverhältnisse durch. Die Putschisten verschanzten sich in der Tausend-Mann-Kaserne in Wilhelmshaven und wurden schließlich durch Artilleriebeschuss zur Kapitulation gezwungen. Es gab acht Tote und 46 Verwundete. In der Folge der Aktion musste der 21er-Rat, dem Duldung des Putsches vorgeworfen wurde, die militärische Kontrolle aufgeben. An der Niederschlagung des Wilhelmshavener Spartakus-Putsches war der Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt beteiligt, der ihn zum Gründungsmythos seines berüchtigten rechtsradikalen Freicorps „Brigade Ehrhardt“ ausrief.
Der Proteststreik der Eisenbahner zur Zeit des Wilhelmshavener Putsches legte die Strecke Sande-Jever für zwei Tage lahm, und ein Vertreter des Sicherheitsdienstes behauptete eine Woche später in einer Versammlung des Bürgervereins Jever, dass selbst ohne Bahn „… tatsächlich schon ein Spartakistentrupp auf dem Weg nach Jever gewesen ist. Sie sind aber bloß bis nach Sande gekommen, da ihr Automobil unterwegs eine Panne erlitt.“ (JW, 5. 2. 1919)
Die Spartakisten beeindruckten auch das flache Land. Bereits am 17. Januar 1919 suchten die Räte von Tettens und Hohenkirchen Freiwillige für eine Volkswehr, wohl eine Reaktion auf den gescheiterten Versuch der Kommunisten zwei Tage zuvor, auf Wangerooge in den Besitz von Waffen und Munition zu gelangen. (JW, 17. 1. 1919) Am 19. Januar 1919 beschlossen die Sillensteder „die Einrichtung einer Ortsvolkswehr zur Sicherstellung der Wahl der Nationalversammlung gegen etwaige spartakistische Umtriebe“. (18)
Vom Wilhelmshavener Spartakus-Putsch geängstigt („Die Spartakisten sind keine Partei, sondern eine Räuberbande“, Tierarzt Dr. Schiel), beschlossen die bürgerlichen Kreise Jevers auf einer Versammlung am 4. Februar 1919 die „dringende“ Bildung einer Bürgerwehr. Sie solle „keinem politischen Zweck dienen“ und sei „keineswegs gegen die Arbeiterschaft gerichtet“, die vielmehr zu beteiligen sei. Den jeverschen Arbeitern schmeckte die Wehr aber zunächst gar nicht, da sie in ihr ein Werkzeug der Reaktion erblickten.. (15) Selbst wenn Arbeiter die erforderliche Sicherheitsüberprüfung (16) überstanden hatten, beäugte Dr. Oskar Hempel sie argwöhnisch: „Es sind bereits 104 Mitglieder aus Arbeiterkreisen der Sicherheitswehr beigetreten, ein Grund mehr für die bürgerlichen Kreise, nicht abseits zu stehen.“ (JW, 21.5.1920) Die Bürger, die beschützt werden sollten, traten nur schleppend ein, was wiederholte Aufrufe an sie ab Mitte 1919 belegen. Im Juli hatte die Wehr eine Stärke von 125 Mann, im November 1919 schließlich teilten sich 200 Mann die 100 von der Regierung gelieferten Gewehre. (17) Mitte 1919 bestand in allen Gemeinden des Jeverlandes diese Einrichtung. Sie schützte bis zu ihrer Auflösung im Juni 1921 vor allem das platte Land durch Streifendienste vor gewöhnlichen Diebesbanden, die sich in der allgemeinen Not bildeten. Kommunisten wurden nicht mehr gesichtet.
Schon im Vorfeld der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung am 19. Januar 1919 konnten vor allem die bürgerlichen Parteien Punkte verbuchen. Es traten z. B. der spätere Reichskanzler Gustav Stresemann (DVP) – die Deutsche Volkspartei hatte im Jeverland allerdings einen breiten antidemokratischen Flügel – und Theodor Tantzen (Deutsche Demokratische Partei, DDP), der spätere erste Ministerpräsident des Freistaates Oldenburg, auf. Der Vorsitzende des „21er Rates“ und Präsident des Revolutions-Direktoriums in Oldenburg, Bernhard Kuhnt, sprach für die Unabhängigen Sozialisten (USPD). Die spätere Weimarer Koalition aus SPD (37,2 %), DDP (28,5 %) und dem im protestantischen Jever bedeutungslosen katholischen Zentrum (1,2 %) erzielte zusammen 65,9 % der Stimmen (Reichsschnitt: 76,2 %; Freistaat Oldenburg: 80,5 %). Die Revolutionspartei USPD kam auf immerhin 10,6 %, bei 7,9 % in Oldenburg und 7,6 % im Reich. Die örtlichen antidemokratischen Kräfte, die sich in der DVP zusammengefunden hatten, verblieben bei 23,1 %. Erstmals hatten auch die Frauen das Wahlrecht, der bürgerliche „Vaterländische Frauenverein Jever“ unterrichtete sie in verschiedenen Versammlungen über die neue Situation. Zum Startpunkt der Weimarer Republik hatte die Demokratie im Jeverland eine breite Mehrheit. Das sollte sich bereits innerhalb der kommenden vier Jahre vollkommen ändern.
Endgültig gaben die Räte die Macht am 20./21. Februar 1919 ab. Von den Mehrheitssozialisten in Berlin dirigierte Regierungstruppen besetzten Wilhelmshaven/Rüstringen, der 21er Rat wurde endgültig aufgelöst, der Revolutionsführer Kuhnt war bereits am 29. Januar wegen der ihm vorgeworfenen Duldung des Spartakusputsches als Präsident des Freistaats Oldenburg abgesetzt worden. „Die für die Expedition nach Wilhelmshaven bestimmten Teile des Landesschützenkorps zogen heute morgen um 6 Uhr ohne jeden Zwischenfall in Jever unter Gesang in vortrefflicher Stimmung ein.“ „Die oldenburgischen Landesfahnen sind wieder in ihr Recht eingesetzt. Die rote Fahne wurde gestern vom Schloss heruntergeholt“, meldete das „JW“ am 20. bzw. 21. Februar 1919. Das Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und SPD-Politiker Paul Hug aus Rüstringen weilte der Expedition nach Jever bei. Die Arbeiter Jevers nahmen ihre Entwaffnung, die durch Verhandlungen im „Hof zu Oldenburg“ eingeleitet wurde, widerstandslos hin.
Zu einem zeitlich nachgelagerten und aufschlussreichen Konflikt zwischen Arbeitern und Bürgern kam es, als plötzlich im Zuge der reichsweiten Teuerungsunruhen von Juni 1920 ein Einsatz der Sicherheitswehr gefragt war. Mit der anziehenden Geldentwertung hatten die Löhne bei weitem nicht Schritt gehalten. Arbeitslosigkeit und der Mangel am Notwendigsten verstärkten den Druck in der Arbeiterschaft und in den Randschichten des Kleinbürgertums. In einer Kettenreaktion erzwangen die verarmenden Massen in verschiedenen Städten Oldenburgs Verkäufe alltäglicher Gebrauchsgüter weit unter Preis und gingen sogar im Schatten der Menge zu Plünderungen über, an denen sich allerdings auch besser situierte Bürger beteiligten.
Um den absehbaren Konflikt zwischen den beiden Fraktionen der Wehr zu vermeiden, setzte Bürgermeister Dr. Georg Müller-Jürgens die lokale Ordnungsmacht am 27. Juni 1920 erst spät ein – als die Geschäfte Jevers , weit unter Preis, schon fast leer gekauft waren. Er nahm dafür die Schleuderpreise, die von den auch aus der Umgebung angereisten Menschen durchgesetzt wurden, und die scharfe Missbilligung durch die Geschäftsinhaber und Teile der Bürgerschaft in Kauf. Das Gewerkschaftskartell Jevers, das ebenfalls Zwangsverkäufe den drohenden Plünderungen als kleineres Übel vorzog, hatte für den Fall des Wehreinsatzes die Bewaffnung der Arbeiterschaft angekündigt und sich am Tage zuvor in einer Krisensitzung zwischen Geschäftsinhabern, Bürgermeister und Arbeitervertretern für die Herabsetzung der Preise ausgesprochen. Zwei Funktionäre, die bei dieser Besprechung die Position des Kartells vertreten hatten, verhaftete die Polizei kurz nach den Unruhen, wie auch einen Arbeiter, der dem Wehrabteilungsführer Dr. Oskar Hempel das Gewehr entrissen und in die Graft geworfen hatte. Es war Hinrich Eden, der ehemalige Vorsitzende des ASRJ, jetzt für die SPD im Stadtrat und „Verbindungsläufer“ in der Wehr. Er wurde wenig später wegen „Pflichtvernachlässigung“ vom jeverschen Wehrberatungsausschuss aus der Wehr ausgeschlossen. Eden hatte sich bei der späten Alarmierung der Wehr nicht gleich zum Sammelplatz begeben, sondern in einem Geschäft, in dem er als Gewerkschaftsvertreter die Zwangsverkäufe überwachte, zunächst für „Ordnung und Ladenschluss“ gesorgt. Der wahre Hintergrund des Rauswurfs war aber Edens politischer Hintergrund, wie die Akten zeigen. (19) Bereits 1920 verlieren sich die Spuren der auch im Jeverland zeitweise existenten Arbeitermacht in der bald alle demokratischen Richtungen dominierenden Rechtsentwicklung des Landstrichs.
Fußnoten
- hierzu: Günther 22ff.
- JW v. 8.11.1918; vgl. auch Günther 96
- Günther 112
- Janßen 147
- vgl. JW v. 19.11.1918 und Janßen 151
- vgl. JW v. 27.11.1918 (Versammlung der Privatangestellten); sowie mehrere Berichte im JW, November 1918, über Versammlungen, auf denen über die Bürgerbeteiligung diskutiert wurde
- LAOL, Best. 136-2767; zit, n. Günther 110
- Günther 119
- in Abwandlung der Bezeichnung „importierte Revolution“ bei Günther 43ff.
- vgl. JW v. 14.11.1918
- Günther 104
- vgl. die gesamte Berichterstattung des JW über die Bürgerversammlungen in Jever im November 1918 sowie die Kontroverse zwischen Hempel und Reinhardt
- Der Belege dafür sind Legion; man kann jede beliebige Ausgabe des JW ab 1920 heranziehen. Bereits im Dezember 1924 bezeichnete der demokratische Ministerpräsident Theodor Tantzen die Zeitung als „Völkischen Beobachter“ von Jever (JW, 2.12.1924). Das JW ging nach 1933 nicht in der NSDAP-Parteipresse auf und erhielt zu seinem 150jährigen Jubiläum 1941 eine Vielzahl von Anerkennungsschreiben höchster Parteiprominenz.
- Günther 190 ff.
- Vgl. z.B. JW v. 16.3.1919
- Satzung der Einwohnerwehren vom 1.4.1920; LAOL Best. 136, 2820
- LAOL Best. 136, 2820 u. 2826
- Janßen 154
- vgl. hierzu allgemein: Grundig 140 f.; in Bezug auf Jever: LAOL Best. 230-4,30; Best. 136, 2820; „Die Republik“ v. 2.7.1920; Berichterstattung des JW, Juni/Juli 1920
Literatur / Quellen
- Grundig, Edgar: Chronik der Stadt Wilhelmshaven. Bd. 2. 1853 bis 1945.- Wilhelmshaven, 1957
- Günther, Wolfgang: Die Revolution von 1918/19 in Oldenburg.- Oldenburg, 1979
- Janßen, Georg: Aus großer Zeit: Beiträge zur Orts- und Familiengeschichte. 3. Heft 1920.- Oldenburg 1920
- Jeversches Wochenblatt (JW), Jahrgänge 1918 bis 1920; Schloss-Archiv Jever, Repros H. Peters
- Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg (LAOL)
Hartmut Peters, März 2017
(Veränderter und erweiterter Auszug aus: Peters, Hartmut: Von der Revolte zur Restauration: Jever zwischen der Novemberrevolution 1918 und dem Beginn der Bundesrepublik 1949/51.- In: Ein Blick zurück.- Jever, 1986, S. 90 – 138)