Wie von seiner Familie bekannt gegeben wurde, starb am 22. Juni 2020 im Alter von 96 Jahren in Lexington, Kentucky, USA, der Elektroingenieur W.(alter) John Pohl. 1924 in eine Berliner jüdische Familie geboren, stand er in seiner Jugendzeit in einem intensiven Kontakt zu unserer Region. Während der großen Ferien besuchte er hier jährlich seine Großeltern mütterlicherseits und seine drei Onkel. Über die sorgenlosen Sommer eines Großstadtkindes auf dem Gutshof seines Onkels Robert de Taube, dem Horster Grashaus, hat er den folgenden lebendigen Bericht hinterlassen. 1938 floh die Familie Pohl vor den Nationalsozialisten, die häufig direkt vor ihrer Wohnung in der Bismarckstraße Aufmärsche veranstalteten, nach England. 1959 wanderte W. John Pohl mit seiner eigenen Familie in die USA aus, machte dort als Chefentwickler von General Electric Karriere und war Inhaber zahlreicher Patente.
1971 begab er sich auf die Spuren seiner Jugend und interviewte auf dem Horster Grashaus Robert de Taube, der die NS-Zeit auf abenteuerliche Weise im Berliner Untergrund überlebt hatte. Die hierbei entstandenen Audio-Aufnahmen wurden im Jahr 2019 im Bremer Verlag FUEGO – in gedruckter Form und mit einer Einleitung und Kommentaren versehen – unter dem Titel „Robert de Taube: Das offene Versteck“ veröffentlicht.
Pohl verfügte über das absolute Gehör und wechselte noch im Alter von 80 Jahren aus Altersgründen von der Violine auf das Klavier. Er hinterlässt seine Ehefrau Madeleine Pohl geb. Hall, eine ehemals bekannte Konzertpianistin, sieben Kinder, 13 Enkel und drei Urenkel. Alle leben in den USA.
Hartmut Peters (GröschlerHaus Jever) hat die Erinnerungen von W. John Pohl an seine unbeschwerte Kindheit auf dem Horster Grashaus aus dem Englischen übersetzt.
Jeden Sommer wurde ich zu der Farm meiner Großeltern mütterlicherseits gebracht, wo ich vier bis sechs Wochen verbrachte. Der Hof hieß „Gut Horster Grashaus“ und lag zwischen Horsten und Neustadtgödens, dem Geburtsort meiner Mutter, in der Nähe von Wilhelmshaven, wenige Meilen von der Nordseeküste in Nordwestdeutschland entfernt. Dieser prächtige Betrieb von über 100 Hektar erstklassigem Agrarland und ein prächtiges Gutshaus mit einer Scheune aus rotem Backstein waren der ganze Stolz meines Großvaters mütterlicherseits, Samuel de Taube. Er war ein erfolgreicher Selfmademan, verließ die Schule mit 14 Jahren und wurde ein sehr geschickter Viehhändler. Er baute seinen Besitz im Laufe der Jahrzehnte durch großen Geschäftssinn auf. Er und seine Frau Rosa, geb. Weinberg, hatten acht Kinder, vier Mädchen und vier Jungen. Meine Mutter Recha war die älteste von ihnen, sie starb 1978 im Alter von 91 Jahren. Ernst wurde 1943 in Auschwitz ermordet, aber Kurt floh aus Deutschland. Robert nicht, er ging in den Untergrund, überlebte in Berlin, ging 1945 zurück auf das Grashaus und starb dort 1982. Die anderen lebten bis in ihre Achtziger- oder Neunzigerjahre, die letzte, Helen, starb 1994 im Alter von 99 Jahren.
Im Gegensatz zu meinem einsamen und beengten städtischen Wohnungsleben zu Hause in Berlin waren diese Sommerferien für mich eine glückliche Zeit – mit der Aufregung so vieler Aktivitäten auf dem Bauernhof im Freien, an denen verschiedene Menschen, andere Kinder, meine Cousins und vor allem die Tiere – Katzen, Hunde, Hühner, Gänse, Enten, Kühe und Kälber, Pferde, Schweine usw. – teilnahmen.
Im Haushalt de Taube wohnten mein alter Großvater mütterlicherseits Samuel de Taube, ein prächtiger alter Herr, der 1855 geboren wurde, und mein Onkel Robert de Taube, damals an die 40 Jahre alt, der der einzige von drei Brüdern meiner Mutter war, die sich für die Arbeit auf dem Bauernhof und dessen Verwaltung interessierte. Es gab auch zwei Dienstmädchen,- Toni Brandt, die Haushälterin, eine sehr tüchtige Dame, und ihre Schwester Henny, durch Arthritis behindert. Beide waren Mitte dreißig Jahre alt. Dann lebten dort drei jüngere Mägde im Teenageralter, die das Melken und andere Arbeiten auf dem Hof erledigten. Für die groben Arbeiten auf dem Bauernhof gab es etwa fünf Knechte. Die männlichen Landarbeiter schliefen in Kojen in ziemlich armseligen, beengten Unterkünften in der Scheune, waren immer schäbig gekleidet und rochen mitunter streng. Die Menschen hatten damals im Allgemeinen einen Körpergeruch, da es zu dieser Zeit auf dem Land keine modernen Toiletten gab. Man wusch sich einmal am Tag mit einem Waschlappen und Seife in Wasser, das jeden Morgen aus einem Porzellankrug in eine große Schüssel gegossen wurde, auf dem Waschtisch, der in jedem Schlafzimmer stand. Alles Wasser, auch wenn es in der Küche oder anderswo gebraucht wurde, kam von Hand mit einem großen Pumphebel aus einem Brunnen vor dem Gutshaus. Es war ziemlich anstrengend, damit einen Eimer zu füllen, und eine der vielen täglichen Aufgaben der Dienstmädchen war es, das schmutzige Wasser auf den Waschtischen in den Schlafzimmern loszuwerden, die Nachttöpfe zu leeren und den großen Porzellankrug wieder mit sauberem Wasser zu füllen.
Jeder hatte einen Nachttopf unter dem Bett, weil es ein langer Weg zum Toilettenhäuschen war, das sich in der Nähe des Stalleingangs befand: vom Hauptwohnbereich aus eine Treppe hinunter, zwei Stockwerke von den Schlafzimmern im Obergeschoss aus. Die Toilette war eine kleine, stinkende Kabine mit einem winzigen Fenster, das mit Spinnennetzen gefüllt war. Hier konnte man auf einem Holzsitz mit zwei Löchern für zwei Erwachsene und einem kleineren für ein Kind austreten. Es gab immer alte Zeitungen zum Abwischen, diese waren nicht weich, aber das war besser als nichts. Etwa einmal im Monat wurden die Ansammlungen von außen aufgenommen, indem die große, hölzerne Zugangsabdeckung entfernt wurde. Der angesammelte Kot wurde inmitten unbeschreiblichen Gestanks in einen Wagen geladen und auf einen großen Misthaufen hinter dem Pferdestall geschüttet, um ihn später auf den Feldern auszubringen.
Ich schlief in der Regel in einem der großen Schlafzimmer im Obergeschoss, von denen jedes zwei Betten hatte. Entweder Onkel Robert oder Großvater schliefen in dem anderen Bett. Beide schnarchten unbarmherzig und machten zuweilen seltsame Geräusche. Onkel Robert stand immer um vier Uhr morgens noch vor der Dämmerung auf, – wusch sich geräuschvoll am Waschtisch, gurgelte, putzte sich die Zähne mit Salz und ging dann mit den Landarbeitern zur Arbeit.
Großmutter Rosa de Taube wohnte nicht dort, – sie zog das Stadtleben und moderne städtische Annehmlichkeiten wie Toiletten mit Spülung und fließendem Leitungswasser vor. So wurde sie in einem schönen alten Haus in der Stadt Wilhelmshaven (Adalbertstraße) mit ein paar Dienstmädchen untergebracht. Manchmal blieb ich dort für eine Weile. Auch die beiden anderen jüngeren Brüder meiner Mutter, Kurt und Ernst de Taube, wohnten dort. Ernst hatte ein Büro im Souterrain, das „Kontor“ genannt wurde, und Kurt hatte eine Wohnung im Nachbarhaus. Alle drei Onkel waren Junggesellen. Sie hatten einen eigenen Grundbesitz, den sie mit Hilfe einer Sekretärin im Kontor verwalteten. Im Nachbarhaus hatte Kurt viele Jahre lang eine Hausangestellte, Helga, die zusammen mit der Großmutter manchmal, aber nicht sehr oft, den Hof des Großvaters im Horster Grashaus besuchte. Ich glaube nicht, dass Großvater und Großmutter ernsthafte Eheprobleme hatten, – sie verfolgten einfach gerne ihre eigenen Interessen in ihrem eigenen Wirkungskreis und hatten die Mittel, in ihren späten Jahren eine getrennte Existenz zu führen, nachdem sie ihre große Familie großgezogen hatten.
Diese Sommerferien auf dem Bauernhof waren im Allgemeinen glückliche Zeiten für mich, – es war immer etwas los. Frühmorgens war die Hektik der Milchproduktion zu spüren, – das Geklirre der Milchkannen auf dem Hof und das fieberhafte Bemühen, alles für die Sammelstelle für die Milchabnahme durch die Molkerei an der Hauptstraße vorzubereiten, zu der die vollen Kannen auf einem Pferdewagen gebracht werden mussten, entlang einer schmalen Gasse, die etwa eine halbe Meile lang war, flankiert von Wiesen, Hecken und einem großen Teich mit quakenden Fröschen. Manchmal war ich früh genug auf, um mit einem der Knechte auf dem Wagen mitzufahren. Dann gab es ein schönes Frühstück mit Großvater in der „Stube“, dem Hauptraum, der einen riesigen, weiß gekachelten Ofen und einen Esstisch hatte, der groß genug für 8 oder 10 Personen war, – und ein Sofa für Großvater. Dies war auch der Ort für Familienessen, das Wohnzimmer nebenan wurde kaum genutzt. Großvater hatte immer zwei gekochte Eier, Schinken und Toast zum Frühstück. Den ganzen Tag lang rauchte er Zigarren. Dieser Lebensstil schien ihm nicht zu schaden, – er lebte bis ins reife Alter von 94 Jahren. Nach dem Frühstück las er etwa eine Stunde lang Zeitung und rauchte.
Für mich konnte nach dem Frühstück eine Vielzahl von Aktivitäten des Tages beginnen, darunter gewöhnlich ein langer Spaziergang durch die Felder mit Großvater oder Onkel Robert, der das Vieh sorgfältig zählte, um sicherzugehen, dass keines fehlte. Die Felder waren durch Bewässerungsgräben unterteilt, die hier und da auf einem Brett durchquert werden konnten. Ein- oder zweimal wurden wir von einem jungen Stier oder einem Widder gejagt, aber meistens war der Weg ereignislos und zu lang. Die Landschaft war völlig flach, und man konnte mindestens ein Dutzend Windmühlen zählen, wenn man den Horizont absuchte. Zweimal am Tag konnte ich beim Melken zuschauen. Die Kühe wurden in ein schlammiges Feld hinter dem Stall getrieben und nicht angebunden, – sie standen in der Regel still genug, um sie zu melken. Die Mägde saßen auf einem einbeinigen Schemel unterhalb des Euters, mit einem Eimer zwischen den Knien. Ich versuchte dies ohne Erfolg, – die Kühe würden nie für mich stillstehen. In den Wintermonaten wurden die Kühe im großen Stall innerhalb der Scheune gehalten, wo sie gefüttert und gemolken wurden. Damals gab es in Europa noch keine Melkmaschinen, während sie in Amerika schon weit verbreitet waren.
Dann gab es die Fütterung der Schweine und der jungen Kälber oder die Herstellung von Sauerkraut aus zerkleinertem Kohl, indem man Schichten davon in Fässer packte, mit Salz usw. Da ich das Enkelkind des Chefs war, waren die Erwachsenen im Allgemeinen nett zu mir und erklärten mir, was vor sich ging. Manchmal gab es andere Kinder zum Spielen, meine Cousins – Gerald und Lilo Suskind oder Gunther Wertheim oder Hansgerd Freudenthal – und andere Kinder aus der Nachbarschaft. Das war toll für mich. Hier habe ich gelernt, einen Ball zu fangen (ein Verdienst von Lilo), und später, ein zweirädriges Fahrrad zu fahren. Ich hatte auch einen „Holländer“, – ein vierrädriges Kinderfahrzeug, das durch Hin- und Herbewegung des Lenkers angetrieben und durch die Füße an der Vorderachse gelenkt wurde. Damit konnte ich die lange Fahrspur erkunden und im Teich nach Fröschen suchen, aber die Fahrt war holprig, die Fahrspur war mit vielen roten Ziegelsteinen gepflastert. Oder ich konnte mich mit einer der vielen schwarz-weißen Katzen anfreunden, indem ich ihnen etwas Milch gab. Ich liebte das, da wir zu Hause keine Haustiere hatten, außer einem Kanarienvogel.
Hier hatte ich mit fünf Jahren auch meine erste schreckliche Erfahrung mit dem Tod. Einer der Knechte beschloss, einer streunenden Wildkatze, die den Hühnerstall nach Eiern durchsucht hatte, mit einem Gewehr aufzulauern. Er nahm mich für dieses „Abenteuer“ mit. Als die Katze über den Zaun kletterte, schoss er ihr in den Kopf, und plötzlich lag sie da, blutend und bewegte sich immer noch!! Eines Tages sah ich auch eine tote Kuh im Stall. Diese Erlebnisse verursachten schreckliche Alpträume, und ich wachte manchmal mitten in der Nacht schreiend auf und schrie, bis eines der Hausmädchen kam und mich tröstete…
Häufig nahm mich Großvater auf seine Reisen mit und fuhr hoch oben auf dem Vordersitz eines vierrädrigen offenen Wagens hinaus, wobei uns in der Regel zwei Pferde zogen. Es ging nur langsam voran, – es dauerte etwa 35 Minuten bis zum nächsten Dorf, Horsten oder Neustadtgödens, für einige Einkäufe, aber zwei Stunden bis Zetel, um Geschäfte zu erledigen oder Freunde zu besuchen, so dass dies eine ganztägige Rundreise war. Die von Bäumen gesäumten geraden Kopfsteinpflasterstraßen schienen endlos lang und die Fahrt sehr eintönig. Auf dem Vordersitz auf der offenen Straße durfte ich manchmal die Zügel in die Hand nehmen. Hier befand ich mich in einer idealen Position, um mich gelegentlich von dem Pferd unterhalten zu lassen, das den Schweif hob und eine Reihe von „Pferdeäpfeln“ zur Welt brachte. Es war für mich immer ein wunderbares Rätsel, wie ein Pferd dies ohne die geringste Verlangsamung seines Ganges tun konnte! Auch beobachtete ich hier die anatomischen Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Pferden, was ich äußerst faszinierend fand.
Großvater war ein feiner alter Herr mit einem langen weißen Bart, stämmig gebaut, vielleicht 1,70 m groß. Er las, wie erzählt, stundenlang in der Stube Zeitung, während er eine Zigarre nach der anderen rauchte, nach dem Mittagessen machte er ein Nickerchen auf dem Sofa, das Gesicht mit Zeitungspapier bedeckt und schnarchte. Im Großen und Ganzen war er ein ruhiger Mann, der uns Enkelkindern nie viel sagte, aber gelegentlich einen trockenen Sinn für Humor zeigte. Er hat nie gelernt, Auto zu fahren, aber nach etwa 1932 hatte Onkel Robert ein Auto, – einen Ford Modell A, und mit ihm auf Einkaufstouren zu gehen, war aufregender als die mühsamen Fahrten hinter den Pferden. Wir fuhren mit einer Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h auf der holprigen, gepflasterten Hauptstraße, und ich staunte über das Wunder der modernen Technik. Die beiden anderen Onkel hatten auch Autos – Ernst einen Chevrolet, Kurt einen Ford – und sie besuchten mich manchmal und nahmen mich auf eine Fahrt mit.
Sie benutzten nie einen Traktor auf dem Bauernhof, immer Pferde zum Pflügen und anderen Arbeiten, auch nicht in der Nachkriegszeit, als relativ preiswerte Traktoren von Vorteil gewesen wären. Ich habe Onkel Robert einmal bei einem Besuch im Jahre 1971 darauf angesprochen. Er sagte, er traue Traktoren nicht, nachdem er Ende der zwanziger Jahre einen Traktor ausprobiert hatte. Seine Überreste waren viele Jahre lang auf dem Hof sichtbar.
Nach der Rückkehr vom Hof des Großvaters nach Berlin, normalerweise nach etwa vier Wochen, schien das trostlose Leben in der Wohnung mit meiner Schwester Toni und Mutter ein schrecklicher Niedergang zu sein. Aber die Reise von und nach Berlin mit dem Dampfschnellzug war für mich immer eine ungeheure Aufregung, ich konnte in der Nacht vor der Reise vor Aufregung nie schlafen. Die Fahrt dauerte acht Stunden und machte an verschiedenen Bahnhöfen Halt, unter anderem in Stendal, Hannover, Bremen und Oldenburg. Ich liebte Zugreisen, saß am Fenster und staunte über die Geschwindigkeit, die zeitweise bis zu 80 Meilen pro Stunde betrug. Ein weiterer Nervenkitzel war der Gang zum hinteren Waggon, von wo aus man die Gleise kilometerweit in die Ferne schweifen sehen konnte. Dampflokomotiven waren für mich die romantischste und wunderbar aufregendste Sache der Welt. Mein größter Ehrgeiz zu dieser Zeit war es, eines Tages Lokomotivführer zu werden.