Varel: Die Boykottaktion der Nazis gegen jüdische Geschäfte am 1. April 1933

Vor 85 Jahren, kurz nach der Machtergreifung der Nazis im Deutschland, veranstalteten die Nationalsozialisten überall im Reich einen ersten „Boykott“ gegen jüdische Geschäftsleute. Die NSDAP-Reichsleitung in München sorgte für die zentrale Vorbereitung und Organisation. Die „Aktion“ erstreckte sich sowhl auf die Großstädte wie auch alle deutschen Kleinstädte und Ortschaften, in denen jüdische Mitbürger lebten. Die Aktion wurde offiziell begründet mit kritischen Berichten in der Auslandspresse, die nach dem Machtantritt der Hitler-Regierung über deren antisemitische Politik erschienen waren.

Das NS-Regime witterte hinter der Kritik eine „jüdische Weltverschwörung“ gegen die nach der Machtergreifung verkündete „nationale Wiedergeburt“ der vermeintlichen „arischen Herrenrasse“ in Deutschland. Für die SA (Sturmabteilung) der NSDAP war die Aktion eine willkommene Gelegenheit, ihren antisemtischen Ressentiments – diesmal mit staatlicher Duldung – erneut brutalen Nachdruck zu verleihen.

 

Was drohten die Vareler Nazis an?

In der Stadt Varel lebten 1933 noch etwa 40 jüdische Bürger. Sie bildeten nur eine kleine Minderheit von etwa 0.5 % der damaligen Einwohnerschaft. Ein von den örtlichen Nazis gebildetes „Vareler Aktionskomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze“ rief Ende März die Einwohner auf, am 1. April 1933 alle jüdischen Geschäftsleute in der Stadt zu boykottieren: „Verräter am Volke ist, wer beim Juden kauft!“, hieß es in einer entsprechenden Ankündigung in der Vareler Tageszeitung „Der Gemeinnützige“.

Zwölf Vareler Geschäftsleute wurden als „Juden“ und Ziel der Aktion namentlich aufgeführt (siehe Abbildung). Zum Großhandel Visser gehörte als Teilhaber auch Sally Rose, der nicht genannt wurde. Die Gebrüder de Levie, Fleischhandel, hatten zwar jüdische Wurzeln, waren vor langer Zeit aber zum Christentum konvertiert. Sie sahen sich daher zu Unrecht in der „Liste“ aufgeführt und protestierten, Dies beindruckte das „Vareler Aktionskomitee“ aber nicht, für sie war die jüdische „Herkunft“ entscheidend.

Das „Aktionskomitee“ drohte den Vareler Bürgern, dass „sie durch SA-Leute von nun an wieder eine Kontrolle ausüben lassen wird, wer in jüdischen Geschäften kauft“. Es werde „dafür Sorge tragen, daß besonders die Namen der bei Juden kaufenden Geschäftsleute der Öffentlichkeit bekannt werden“. An anderer Stelle war zu lesen: „Scheinbar haben die wenigsten Volksgenossen begriffen, was Nationalsozialismus ist. Das heißt, eintreten für ehrliche Volksgenossen, (…). Dagegen den Fremdkörper im deutschen Volke als überflüssig zu betrachten und zu behandeln“.

Abb.: „Der Gemeinnützige“, Varel, 31. März 1933. Repro Sammlung Frerichs.

 

Wie verlief der „Boykott“ in Varel ?

Vor allen „jüdischen Geschäften“ zogen am 1. April braununiformierte SA-Leute mit entsprechenden Schildern und Sprechchören auf. Sie versuchten, Kunden am Betreten der Geschäftsräume zu hindern. „Der Gemeinnützige“ meldete tags darauf zynisch, der Boykott habe sich „in aller Ruhe und Ordnung vollzogen“ und zu „Zwischenfällen ist es nirgends gekommen“. Verschwiegen wurde allerdings, was die nationalsozialistische „Oldenburgische Staatszeitung“ aus Varel unter der Überschrift „Der Jude Schwabe eingesperrt“ zu berichten wusste: Franz Schwabe, der Inhaber der überregional bekannten Leder- und Treibriemenfabrik am Steinbrückenweg, hatte sich gegen das rüde Auftreten der SA gewehrt und landete daraufhin in „Schutzhaft“ im Vareler Polizeigefängnis. Auch ein Vareler KPD-Mitglied ereilte das gleiche Schicksal.

Abb.: „Oldenburgische Staatszeitung“, 2. April 1933. Repro Holger Frerichs.

 

Wie reagierte die Vareler Bevölkerung ?

Das NS-Regime war im April 1933 noch nicht gefestigt. Das schon vor 1933 mehrheitlich NSDAP wählende Vareler Bürgertum hielt „Maßnahmen gegen die Juden“ zwar für durchaus akzeptabel, mag solch „Rowdytum“ der braunen „Sturmabteilung“ aber als Störung gutbürgerlicher „Ruhe und Ordnung“ empfunden haben. So gab es offenbar vereinzelt kritische Äußerungen in der Vareler Bürgerschaft. Der schon vor 1933 mit der „nationalen Bewegung“ sympathisierende „Gemeinnützige“ sah sich daher zu einem Kommentar in der Zeitung veranlasst:

„In manchen Kreisen des Bürgertums hat man sich in diesen Tagen, mitunter sehr lebhaft, über die moralische Seite des B o y k o t t s unterhalten und sich so gebärdet, als sei der Boykott etwas Niedagewesenes.“ Der damalige Schriftleiter Franz Knorr hielt diese Bedenken aber für völlig unangebracht. Er beklagte sich über angeblich zuvor durchgeführte „Boykottaufforderungen“ gegen „nationale Geschäftsleute“ und den „Gemeinnützigen“ in Varel, die er sozialdemokratischen und kommunistischen Zeitungen und Flugblättern und den freien Gewerkschaften vorwarf. Der frühere politische Kampf der nun bereits verfolgten Gegner der Nationalsozialisten in Varel (laut Knorr alles „Marxisten und Bolschewisten“) dienten ihm zur Rechtfertigung der rassistisch motivierten „Boykottaktion“ der Nazis.

 

Was folgte nach dem „Boykott“ ?

Angesichts weiterer Kritik im Ausland und der Kritik in Teilen der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung brach das NS-Regime den organisierten „Boykott“ schon nach einem Tag ab. Allerdings blieb es auf örtlicher Ebene auch in den folgenden Jahren bei Bestrebungen der NS-Funktionäre, auf vielerlei Weise die jüdischen Geschäftsleute von der übrigen Bevölkerung zu isolieren und ihnen damit die Lebensgrundlage zu entziehen.

Reichsregierung und Parteispitze setzten in den folgenden Jahren eher auf „gesetzliche“ Maßnahmen zur Ausgrenzung und Verfolgung der deutschen Juden. Das Novemberpogrom 1938 – auch in Varel verbunden mit der Zerstörung der Vareler Synagoge in der Osterstr. 10 und der zeitweisen Verschleppung jüdischer Bürger in das Konzentrationslager Sachsenhausen – war ein weiterer Schritt der Eskalation. Es folgte ab 1939 die Zwangsschließung oder „Arisierung“ aller verbliebenen jüdischen Unternehmen und des Grundbesitzes.

Bis 1941 war allerdings noch das Ziel, möglichst alle Juden zur Emigration zu zwingen.

Der Weg in den Holocaust begann für die jüdischen Opfer im Oktober 1941 mit dem Ausreiseverbot und Beginn der systematischen Deportationen aus dem Reich. Wer von den deutschen Juden bis dahin nicht rechtzeitig das Land verlassen hatte, verschleppte das NS-Regime mit der Reichsbahn in die Gettos und Vernichtungslager „im Osten“. In Varel betraf dies im Oktober 1941 und Juli 1942 die verbliebenen Bewohner des Jüdischen Altenheimes im Weinberg-Haus in der Schüttingstrasse 13. An sie erinnerrt eine Gedenktafel des Arbeitskreises „Juden in Varel“.

Abb.: Antisemitische SA-Propaganda in Varel, 1930er Jahre. Aufschriften der Schilder: „Nur ein erbgesundes Volk wird leben“, „Herut de Jud“ (Heraus die Juden), „Keine Kuh dem Juden!“. Sammlung Frerichs.

 

Was wurde aus den 1933 boykottierten jüdischen Geschäftsleuten in Varel ?

Von den am 1. April 1933 in der „Boykottliste“ aufgeführten Vareler Geschäftsleuten und ihren Familien konnten einige rechtzeitig emigrieren, andere wurden Opfer der Shoah:

Die Ehepaare bzw. Familien Schwabe (Leder- und Treibriemenfabrik), Schwabe-Barlewin (Kaufhaus Haferkampstr. 10), Neumann (Schuhhandlung Drostenstr. 2), Wolff (Viehhandel, Moorhausener Weg 2), Herzberg (Färberei, Lange Str.) und Rose (Mitbetreiber Großhandel Visser, Wohnhaus Elisabethstr. 3) retteten sich ins Ausland. Sie gelangten in die USA, Großbritannien, Australien, Südafrika.

Von der Familie Weiss (Kaufhaus Hindenburgstr. 3) konnten die beiden Kinder nach Palästina emigrieren. Ludwig und Rosa Weiss verzogen nach Bremen. Ludwig Weiss starb nach dem Novemberpogrom 1938 an Mißhandlungen durch die Lager-SS im Konzentrationslager Sachsenhausen. Seine Frau Rosa Weiss deportierte die Gestapo 1941 von Bremen ins Ghetto Minsk (Weißrussland). Sie kehrte von dort nicht zurück.

Von der Familie Visser (Großhandel, Geschäftshaus Neumühlenstr. 12, Wohnhaus Oldenburgerstr. 39) überlebte nur die Tochter Ruth, ihre Schwester Ingeborg und die Eltern Eduard und Käthe wurden von der Gestapo 1940 nach Berlin vertrieben. Dort starb Eduard Visser Anfang 1941 an den Folgen von Zwangsarbeit; seine Witwe, die Tochter Ingeborg und deren Ehemann mit dem wenige Monate alter Sohn wurden 1943 nach Auschwitz-Birkenau verschleppt und ermordet.

Der „Produktenhändler“ Ernst Weinberg musste Mitte der 1930er Jahre sein Gewerbe aufgeben und richtete gemeinsam mit seiner ebenfalls noch in Varel lebenden ledigen Schwester Jette Weinberg in der Schüttingstr. 13 ein Jüdisches Altenheim ein. Die Geschwister Weinberg wurden mit einigen Bewohnern von der Staatspolizeistelle Wilhelmshaven im Oktober 1941 über Emden und Berlin ins Ghetto deportiert und kamen dort 1941/42 um.

Die Eheleute Ludwig und Emilie Frank (Großhandel, Hansastr. 4) gingen zunächst in die Niederlande zu ihrem bereits in Groningen lebenden Sohn. Nach der deutschen Besetzung gerieten sie aber wieder in die Fänge der Nazis und wurden 1942 über das Lager Westerbork nach Auschwitz verschleppt. Die Eheleute wurden dort sofort nach Ankunft ermordet, ihr Sohn kam 1943 um.

Das Ehepaar Alexander und Betty Bukofzer aus der Schloßstr. 13 verließ im Juni 1933 die Stadt Varel und verzog nach Berlin. Von dort deportierte sie die Gestapo im Februar 1942 mit dem „8. Osttransport“ ins Getto Riga, dort kamen beide Eheleute um.

Der Viehhändler Hermann Pinto aus der Neuen Str. verließ Varel im September 1935 mit bisher unbekanntem Ziel. Ihm gelang offensichtlich die Emigration aus Deutschland. 1969/70 lebte er in Argentinien,  weitere Einzelheiten sind noch Gegenstand der Forschung.

Auf Einzelnachweise im Text wurde verzichtet.

Quellenhinweise und Belege beim Verfasser.

[Copyright: Holger Frerichs, Arbeitskreis „Juden in Varel“, Forschungsstand 22.01.2019]