Vortrag – 27. Jan. 2015 – Holocaust-Gedenktag – Aula Mariengymnasium Jever
HARTMUT PETERS
Die Ermordung der Juden aus Jever 1938 – 1945 durch das NS-Terrorregime
Inhalt
4: Die Vertreibung der Juden aus Jever 1940 – ein Moment hin zum Holocaust
5: Statistik des Mordes an den Juden aus Jever
6: Die jeverschen Juden im Ablauf des Holocaust
7: Literatur- und Quellenangaben
Liebe Schülerinnen und Schüler, sehr geehrte Damen und Herren!
1: Einleitung
Vor 70 Jahren wurden das Konzentrationslager Auschwitz, das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und die zahlreichen, der Ermordung durch Arbeit dienenden Nebenlager von den Soldaten der Roten Armee befreit. Auschwitz ist Synonym für den Holocaust und den mörderischen Rassenwahn des Nationalsozialismus, der außer den Juden auch Gruppen wie die Sinti und Roma zum Opfer gefallen sind.
Es dauerte 40 Jahre, bis sich gegen zähen Widerstand das Gedenken an den November 1938, in dem fast alle Synagogen zerstört worden waren, etabliert hatte. Das Verbrechen des Holocaust, der Mord an 6 Millionen Menschen, stand sehr lange im Hintergrund. Das ist nachvollziehbar. Den Schwerpunkt auf nicht mehr vorhandene Gebäude zu setzen war für die Täter, die Mitschuldigen und die Mitwisser die einfachere Lösung. Sie dominierten die öffentliche Meinung und die Institutionen des Staates bis zu ihrem biologischen Ende und häufig auch darüber hinaus – aus Gründen einer ganovenhaft verstandenen „Ehre“ der Familie oder der Institution.
Seit 19 Jahren ist heute nun der offizielle Holocaust-Gedenktag Deutschlands. Aber er spielt eine untergeordnete Rolle, zumal auf regionaler Ebene. Aber immerhin gehörte Jever zu den ersten Kleinstädten, die ein würdiges Mahnmal für die ermordeten Juden aufstellten. Lassen Sie uns am Schluss dorthin gehen. Ich will Metaphern vermeiden und Höllen sachlich darstellen. Aber dagegen habe ich schon verstoßen. 1967 habe ich bei einem Jugendprojekt die zerstörten Gaskammern und Krematorien in Auschwitz-Birkenau vom Schutt befreit. In zeitlichen Intervallen habe ich immer wieder den Stand der wissenschaftlichen Forschung versucht nachzuvollziehen.
Über die Juden Jevers gelang es seit 1979, ein Archiv aus verschiedensten Quellen zusammenzustellen, das durch Kontakte zu überlebenden Familienangehörigen entscheidend bereichert wurde. Ihnen haben wir die Fotos und viele Informationen zu verdanken. Wie auch Dr. Enno Meyer, dem Pionier der Erforschung des Holocausts im Oldenburger Raum. Ich nenne auch Friedrich Levy, ohne dessen Zeugenschaft die Erinnerungsarbeit in Jever wohl gar nicht erst begonnen hätte. Holger Frerichs, der Levy kannte, hat jüngst eine profunde Studie über das jüdische Altenheim in Varel und die Ermordung der Bewohner vorgelegt. Ich hoffe, dass für Jever Vergleichbares gelingt. Der Vortrag hat drei Teile: Ich werde Ihnen zunächst allgemeine Gedanken zum Holocaust vorstellen. Dann folgen Informationen über die jeverschen Juden in dieser Zeit und abschließend in einer Power-Point-Darstellung Einzelschicksale. [Die Power-Point-Folien sind hier durch einzelne Fotos und Dokumente ersetzt.]
2: Rätsel Auschwitz?
Wie kam es, dass ein so zivilisiertes, fortgeschrittenes Volk wie die Deutschen etwas so Entsetzliches wie die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der Juden ins Werk setzte? Wie passen Goethes Weimar und das nahe KZ Buchenwald zusammen? Gerne lässt man deshalb den Holocaust in einem schwarzen Loch des Verstehens verschwinden, als schlechterdings unerklärliches, ja außerhistorisches Rätsel begriffslosen Schreckens.
Die Erforschung des Holocausts nicht abgeschlossen. Es gibt inzwischen wissenschaftliche Ansätze zur Erklärung. Die Namen Hilberg, Friedländer, Ulrich Herbert, David Bankier, Wolfgang Benz und Peter Longerich sind hier zu nennen. Götz Aly und Hans Mommsen haben mich in letzter Zeit besonders interessiert. Die Erklärungen beschreiben häufig nur die Funktionalität und den technischen Ablauf. Sie lösen den einzelnen Handelnden, seine selbstverantwortliche Entscheidung, in überpersonale Systeme und bloße Fakten auf. Das ist sicherlich wichtig zu erforschen, aber kein gründliches Verstehen. Auch die Gegenvorstellung, der autonome Mensch, ist eine Chimäre der Phantasie. Zumal man sich sofort fragt, wie in einem Terrorregime wie dem NS-Staat hätte selbständig gehandelt werden können, es sei denn man wäre selbst der „Führer“ gewesen. Und Hitler hat gar keinen eigentlichen Befehl zum Holocaust gegeben, geben müssen, obwohl er der maßgebliche Urheber und Exponent der Vernichtungspolitik war. Es war eher eine Kette von Weisungen, die auf aktives Einverständnis und gehabte Erfahrungen bereits bestehender mörderischer Praxis trafen. Sie besaßen wegen Hitlers autoritärer Stellung, durch die die Täter ihr verbrecherisches Handeln legitimiert sahen, besondere Wirksamkeit. Das Ausgehen von einem „Führerbefehl“ trägt m. E. zur Erklärung des Holocaust insgesamt nur wenig bei.
Adorno sagte 1966 in seinem Vortrag „Erziehung nach Auschwitz“: „Es ist die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht. Man spricht heute vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen! Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, [….]. Er treibt die Menschen zu dem Unsäglichen, das in Auschwitz […] kulminierte.“
Ich denke, die nationalsozialistischen Großverbrechen müssen als Erscheinungen ihres Jahrhunderts, also als verbunden mit unserer heutigen Welt, begriffen werden. Auch wenn das manchmal verstört, wenn heilige Kühe der Gegenwart hinterfragt werden wie Gesundheits-, Bevölkerungs- und Sozialpolitik oder der Nationalstaat. Dafür war in den letzten Jahren fast ganz allein Götz Aly zuständig. Aly hat auf die Euthanasie-Verbrechen als den Auswuchs eines Strebens nach Volksgesundheit und sozialer Hygiene hingewiesen – ein Streben, das bis heute akzeptiert und gegenwärtig verstärkt wird.
Aly hat im Holocaust auch die schrittweise Radikalisierung zur Verfügung stehender bevölkerungspolitischer Maßnahmen im angeblich vernünftigen Streben nach homogenen Staatsnationen gesehen. Die NS-Volksgemeinschaft ist auch für mich der hässliche, heute gerne verleugnete Zwilling des in homogenen Staatsnationen geborenen Nationalismus. Es gibt keinen „ungefährlichen“ Nationalismus. Die Entrechtung und Ausplünderung der Juden seit 1933 erst in Deutschland, dann im besetzten Europa wären ohne die begleitenden, an einen Sozialstaat erinnernden Umverteilungsmechanismen und die z.T. egalitäre Kriegswirtschaft nicht so reibungslos über die Bühne gegangen, lautet ein weiterer Befund Alys, über den es sich lohnt nachzudenken. Nach meinem Empfinden hängt Antisemitismus – auch, unter anderem – mit dem gestörten Verhältnis vieler hier zur individuellen Freiheit zusammen. Ich spüre einen latenten, weltanschaulich nur unterschiedlich getarnten Hang zum Kollektiv, zur Unterordnung in der Gruppe. Juden entziehen sich dieser Gleichmacherei in der Wahrnehmung vieler.
3: Ansätze zum Verstehen
Mir sind außerdem vier Dinge aufgefallen:
1: Der antisemitische Rassismus wird bis heute unterschätzt. Viele verstehen nicht, was Rassismus von Fremdenfeindlichkeit und Vorurteilen unterscheidet. Es ist vielleicht von heute aus zu schwer zu akzeptieren, dass 1933 mit der NSDAP und der verbündeten DNVP in freien Wahlen der antisemitische Rassismus insgesamt breite politische Macht wurde. In Jever wählten 1933 63% offen antisemitische Parteien. Selbst der politischen Linken, den Liberalen und den politischen Christen wurde ein struktureller Antisemitismus nachgewiesen.
Man beruhigt sich vielleicht damit, dass solcher breit aufgestellte Antisemitismus ja „nur schlimm intolerant, aber nicht exterminatorisch“ gewesen sei. Aber: Täter, die die Juden nicht einfach nur aus ihrer Stadt „weg“ haben oder bei günstiger Gelegenheit ein paar Familien erschlagen wollten, sondern für die grundsätzliche Lösung waren, gab es. Auch in Jever. Als Geistestäter, als Mörder. Hannah Arendt sprach angesichts Eichmanns von der „Banalität des Bösen“. Vielleicht ließ sie sich täuschen. Eichmann war der bürokratische Organisator der Deportationen, aber gleichzeitig überzeugt vom Sinn der Ausrottung. Man denkt auch meist an durchrationalisierte, anonyme Mordfabriken wie Auschwitz oder Sobibor. Die Mehrheit der Opfer starb aber nicht hier, sondern bei häufig chaotischen Erschießungs- und Vergasungsaktionen „face to face“ unter Beteiligung von geschätzten 300.000 Tätern und einem Vielfachen an Zeugen.
2: Die Zielsetzung des Krieges im Osten als rassistisch begründeter Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg wird nicht wirklich verstanden. Es ist natürlich auch schwer zu akzeptieren, dass eine Armee hier zur Basis und in Teilen zum Werkzeug mörderischer Bereinigung wurde, wenn man in der Kategorie der Nation denkt. Paradox ist, dass für viele in Deutschland ein solcher Weltanschauungskrieg heute außerhalb des Verstehensfeldes liegt, während er doch aus Teilen der Welt täglich in die Wohnzimmer flimmert.
Es handele sich um den „alten Kampf der Germanen gegen das Slawentum, die Verteidigung der Kultur gegen moskowitisch-asiatische Überschwemmung, die Abwehr des jüdischen Bolschewismus“, für dessen Träger es „keine Schonung“ geben dürfe, so General Erich Hoepner (zit. n. Mommsen 134). Nur vereinzelt gab es im Offizierskorps Bedenken, die Kriegsführung nicht an völkerrechtliche Grundlagen zu binden. Von Anfang an existierte eine enge Zusammenarbeit, ja Arbeitsteilung, zwischen den Truppenstäben und den mörderischen Einsatzgruppen der SS. Und außer den Kriegsverbrechen von Wehrmachtsteilen wie die gezielte Ermordung sowjetischer Offiziere und kriegsgefangener Soldaten gab es auch direkte Beteiligungen an Erschießungen von jüdischen Frauen und Kindern.
3: Die persönlichen Spielräume der Handelnden, auch der Subalternen, sind immer größer, als angenommen. Sie gleichen Zahnrädern mit einem eigenen, dezentralen Antrieb im Getriebe des Mechanismus der Verfolgung bis hin zum Massenmord. Der Bürgermeister Jevers, Martin Folkerts, hätte 1940 nicht das alte, kranke und nicht reisefähige Ehepaar Schwabe aus Jever nach Berlin vertreiben und damit dessen baldig absehbaren Tod in Kauf nehmen müssen. Es bestand die Möglichkeit einer Aufnahme in einem regionalen jüdischen Altenheim. Wie nachgewiesen ist, wurde auch niemand gezwungen, selbst zu erschießen. Die Offiziere der Wehrmacht hätten die Beteiligung eigener Einheiten am Mord im Rahmen des Vernichtungskriegs im Osten gegen die Juden, Polen und Sowjetbürger verweigern können. Und so weiter. Es drehten viel zu wenige Räder in die Gegenrichtung.
4: Von heute aus gesehen stellt sich das Geschehen für manchen so dar, als ob es einen Gesamtplan gegeben hätte. 1. Stufe: Zunächst werden die Juden im Reich entrechtet und verfolgt, um sie zur Flucht zu zwingen. 2. Stufe: Ab 1940 werden die nicht Emigrierten dann über verschiedene, verschleiernde Stationen in den Osten deportiert und dort – 3. Stufe – zusammen mit denen des eroberten Ostraums ermordet. Es wäre entlastend, wenn es den Gesamtplan gegeben hätte, ausgearbeitet von einem Führer oder einer kleinen Clique von „Haupttätern“, denen man dann alle Schuld zuschreiben könnte.
Aber viele Menschen und Institutionen haben dezentral ihre Interessen in der Abschiebung der Juden nach Osten, in der anschließenden Verminderung der Zahl der Abgeschobenen durch Maßnahmen wie verhungern lassen, verweigern jeder Hygiene und in tödlicher Arbeitsfolter abgebildet gesehen und dementsprechend agiert. Es gab ab 1940/41 eine Reihe von Initiativen, die parallel und oft in Konkurrenz zueinander begannen und sich zum Teil widersprachen. Das machte jeweils neu ausgeordnete Koordinierungen notwendig, die Haupttäter wie Himmler, Heydrich, Bormann und Eichmann ausarbeiteten, die aber nur kurzfristig trugen.
Der Übergang zum geplanten Massenmord verlief schleichend. Das Ziel der systematischen Liquidierung bildete sich erst unter den Bedingungen des Ostkriegs nach dem Überfall auf die Sowjetunion ab Juni 1941. Der entscheidende Schritt erfolgte im Juli 1941 in Polen auf unterer Ebene, parallel dazu fanden bereits archaische Massaker durch SS-Einsatzgruppen in den gerade eroberten Teilen der Sowjetunion statt – auf Weisung Heydrichs, aber noch nicht als Teil eines größeren Plans. In einem „Prozess der Selbstermächtigung und Selbstradikalisierung“ (Mommsen) brachen dann alle Dämme. In einem völlig straffreien Raum wetteiferten die Einsatzgruppen buchstäblich um die höchsten Mordquoten und erfanden immer effektivere Methoden. Hitler verlangte dann im September 1941 überraschend die Deportierung der Juden aus dem Altreich und setzte sie bei einer Geheimrede im Dezember mit auszurottenden „Partisanen“ (Friedländer 308) gleich. Die Wannsee-Konferenz von Januar 1942 schließlich diente der Koordinierung der laufenden Mordaktionen, der Sicherstellung der führenden Rolle der SS bei den dezentralen Aktivitäten und der administrativen Inwerksetzung der „Endlösung“.
Die ab März 1942 entstehenden reinen Mordfabriken Belzec, Sobibor und Treblinka gingen zunächst auf solches learning by murdering zurück, nicht auf ein zentrales Konzept. 1943 schließlich mündet die Entwicklung in den neuen Gaskammern von Auschwitz-Birkenau, den zentralen, rationalisierten Tötungsanlagen des NS-Regimes, die bis heute unser Bild vom Holocaust prägen, aber nur einen Teil der Wahrheit darstellen. In den letzten Kriegsmonaten der Todesmärsche, als Auschwitz schon befreit war, dominierte dann wieder die eher dezentrale Phase davor. In Anlehnung an Hans Mommsen könnte man den Prozess als „situative und kumulative Radikalisierung“ bezeichnet. Die Entwicklung nahm immer die schlimmstmögliche Wendung. Man fragt sich, was noch passiert wäre, wenn die Alliierten nicht gewonnen hätten.
4: Die Vertreibung der Juden aus Jever 1940 – ein Moment hin zum Holocaust
Vor einem Jahr habe ich hier die Vertreibung der Juden aus Jever seit Beginn des NS-Regimes 1933 bis zum Jahre 1940 dargestellt. Der Fund eines bisher zurückgehaltenen Aktenordners der Stadt Jever ließ es zu, die letzte Zeit der Juden in Jever Anfang 1940 genau darzustellen. Ohne dass dafür eine Anweisung aus Berlin vorlag, vertrieb eine massive Aktion der Gebietskörperschaften unter Federführung der Geheimen Staatspolizei Wilhelmshaven innerhalb von kurzer Zeit fast alle Juden aus dem Gau Weser-Ems, insgesamt etwa 800, darunter 33 aus Jever. Diese Menschen waren bis 1940 nicht vor den antisemitischen Verfolgungen einer Kleinstadt in die Anonymität der Großstädte oder ins Ausland ausgewichen. Sie wären, da überwiegend älter und mittellos, dazu auch kaum in der Lage gewesen. Sie wurden jetzt unter Bedrohung ihres Lebens und ständiger Kontrolle durch die Gestapo und die Stadt Jever gezwungen, sich Unterkünfte in Großstädten westlich des Rheins zu suchen. Emigration war auch aufgrund des im September begonnenen Krieges fast unmöglich.
Als Grund wird in den Akten die Nähe zu militärischen Anlagen an der Küste und zum Kriegshafen Wilhelmshaven angeführt. Die Juden seien inländische Verbündete der „Feinde“ der Deutschen. Auch mag der bevorstehende Überfall auf die Niederlande, so er bei den Amtsträgern bekannt war, eine Rolle gespielt haben. Es spricht aber mehr dafür, dass es sich lediglich um ein vorgeschobenes Argument handelte, das es antisemitischen Amtsträgern vor Ort ermöglichte, sich der Juden zu entledigen, Wohnraum leer zu bekommen, Sozialkosten einzusparen oder sich persönlich Geltung zu verschaffen. In der Tat war der Gau Weser-Ems der erste, der sich „judenfrei“ rühmte. Der Vorgang ist ein Beispiel für eine „kumulative Radikalisierung“ (Mommsen) vor dem Holocaust hin zum Holocaust. Eine solche deportationsähnliche Zwangsumsiedlung ist so frühzeitig im Reichsgebiet nur selten dokumentiert. Das Muster kam von den ersten gewalttätigen Umsiedlungsaktionen im seit September 1939 besetzten Polen, von denen man sich inspiriert fühlte.
Die jeverschen Juden kamen unter deprimierenden Umständen in Berlin, Bremen, Dortmund, Essen, Hamburg und Herne nur in der Ausnahme bei Verwandten und meist in Massenunterkünften unter, die die örtlichen jüdischen Gemeinden zu stellen hatten. Vorangegangen waren verzweifelte Bemühungen des Vorstehers der Synagogengemeinde, Julius Gröschler, Wohnungen zu besorgen. Er war von den Nazis zu einer Art Judenältesten zwangsverpflichtet worden und bürgte bei seinem Leben für das Gelingen der gesamten Aktion. Gröschler hatte sich speziell auch um sieben über 70 Jahre alte, von der Fürsorge lebende alleinstehende Frauen zu kümmern. Der größte Teil des Hausrats wurde zu Gunsten der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) in der Gaststätte „Zum Birnbaum“ verhökert. Zurück blieben in Jever im März 1940 lediglich 3 „arisch“ Verheiratete.
5: Statistik des Mordes an den Juden aus Jever
Als eine Initiative in Jever 1994 das Mahnmal für die Ermordeten Juden Jevers planten, mussten wir festlegen, wer als jeverscher Jude zu gelten hat. Wir gingen von einem längeren Wohnsitz in Jever nach 1932/33 und von der Verfolgung durch die Nationalsozialisten aus Gründen der sogenannten Rasse, also nicht der Religion, aus. Unausweichlich orientiert man sich auch heute noch an den Folgen der Nürnberger Rassegesetze von 1935, auch häufig in der Sprache. Die Rekonstruktion der Sterbensläufe gleicht einem Puzzle aus verschiedenen Puzzles, deren meisten Teile verloren sind. In Jever lebten im genannten Zeitraum 135 als Juden verfolgte Menschen. 40 von ihnen gelang die Flucht ins außereuropäische Ausland – und damit dauerhaft. Die häufigsten Länder waren England, Argentinien, Chile, die USA und Palästina. 67 der 135 sind als Opfer anzusehen. 7 überlebten innerhalb des NS-Machtbereichs. 18 starben vor Beginn der Deportationen, die ab Ende 1941 die Bahnhöfe Richtung Osten verließen, eines natürlichen Todes. 3 Schicksale lassen sich nicht aufklären.
Der Anteil der Opfer von 50% (ohne die natürlich Verstorbenen von sogar 57%) ist vergleichsweise hoch, der Anteil der gelungenen Fluchten von 30% gering. Auf der Basis des gesamten Reichs war es genau umgekehrt, also etwa 50% Emigration und 30% Ermordung. Allerdings handelt es sich bei diesen Zahlen um eine Schätzung. Zur Erklärung des Unterschieds bieten sich zwei Gründe an. Wegen der geographischen Nähe, der verwandtschaftlichen Beziehungen und der niedrigen Sprachbarriere flohen 12 Personen in die letztlich nicht sicheren Niederlande und damit vermutlich im Verhältnis relativ viele. Nur 2 dieser 12 wurden nach der deutschen Okkupation nicht entdeckt und nicht nach Sobibor oder Auschwitz deportiert. Der andere Grund liegt in der Überalterung der jüdischen Gemeinde bereits 1933, die auf den deutlichen wirtschaftlichen Niedergang der noch vor dem Zweiten Weltkrieg blühenden Viehhandelsmetropole Jever zurückzuführen ist. Die jungen Leute fanden hier keine Arbeit mehr. Der wirtschaftliche Niedergang führte auch zu einer Verarmung der meist dem kleinen Mittelstand zugehörigen Familienbetriebe, die durch die NS-Maßnahmen noch deutlich verschärft wurde. Alter und Armut sind keine guten Voraussetzungen dafür, einen Neustart im Ausland und in einer fremden Sprache zu wagen. Ohne genügend Geld hatte man ohnehin keine Chance, Aufnahme zu finden.
Als 1940 die Auswanderung gestoppt wurde, war der Anteil der Witwen und unverheirateten älteren Frauen unter den jeverschen Juden hoch. Nur drei Ehepaare waren unter 40 Jahren. Die meisten Ehepaare waren deutlich über 50. Das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt der Deportationen lag bei 55, die Emigrierten waren zum selben Zeitpunkt 35, also fast eine Generation jünger. Eine Rolle spielen statistisch hier auch die sog. Kindertransporte nach England Ende 1938, die auch einem halben Dutzend Jugendlicher aus Jever das Leben retteten. Wolf Weinberg war für die Transporte noch zu jung. Er starb zusammen mit seinen Eltern 1943 in Auschwitz im Alter von 10 Jahren.
6: Die jeverschen Juden im Ablauf des Holocaust
Bereits vor Beginn des eigentlichen Holocaust waren zwei Juden aus Jever umgekommen. Josef Haas hatte ein Zigarrengeschäft in der Gr. Wasserpfortstraße und war Mitglied im Synagogengemeinderat. Er floh1937 vor dem kleinstädtischen Druck nach Hamburg. Von dort wurde er im Novemberprogrom 1938 in das KZ Sachsenhausen verschleppt. Der 56jährige fiel nach wenigen Tagen den brutalen Lagerbedingungen zum Opfer. Conrad de Taube aus der Schützenhofstraße arbeitete als Viehhändler und Landwirt. Er erkrankte psychisch, kam in das Landeskrankenhaus Wehnen, von dort 1940 in eine Anstalt bei Hannover. Conrad de Taube wurde Opfer der sog. Aktion T 4, der Mordaktion an jüdischen Kranken, die offiziell als „planmäßige Verlegung geisteskranker Juden“ verschleiert wurde, damit den Nürnberger Rassetrennungsgesetzen auch in den Pflegeanstalten entsprochen werde. Im Alter von 38 Jahren wurde de Taube im September 1940 in der Gaskammer der „Euthanasie“-Anstalt Brandenburg ermordet. Das war der erste planmäßige Massenmord an Juden. 9.000 Menschen fielen ihm Opfer. Über 90 Mitarbeiter der Anstalt Brandenburg übernahmen wenig später Schlüsselpositionen bei der Ermordung der Juden im „Generalgouvernement“. Sie transferierten die in Brandenburg entwickelte Tötungstechnik durch Kohlenmonoxid in die Vernichtungslager Sobibor, Belzec und Treblinka im Rahmen der „Aktion Reinhard“.
Das Mordgeschehen ab 1941 lässt sich in drei Phasen einteilen. Erste Phase 1941/42: Die Deportationen aus den deutschen Großstädten in die Ghettos des eroberten Osteuropas in der Zeit des wie vorhin dargestellten Übergangs zum geplanten Massenmord. Zweite Phase 1943/44: Die Deportationen der die Ghettos und die wilden Erschießungen Überlebenden in auf Vernichtung spezialisierten Lager wie Auschwitz und Sobibor; zeitgleich mit den Deportationen aus Deutschland, aus den Niederlanden, Frankreich und Belgien in diese beiden Lager. Dritte Phase 1944/45: Die beginnende mörderische Verfolgung der in sog. Mischehe Lebenden, auch in Jever, und die Auflösung der Lager, meist gefolgt von Todesmärschen.
Die Anfang 1940 aus Jever vertriebenen Juden trafen in den Großstädten manchmal auf Bekannte, die schon Jahre vorher hierhin ausgewichen waren. Recht wenig ist über die konkreten Lebensumstände dieser im Schnitt etwa zwei Jahre dauernden Episode ihres Leidensweges bekannt. In den Massenunterkünften mit beschränktem Raum kamen auch schon Diebstähle von Lebensmitteln vor. Caroline Schwabe war diesen Bedingungen nicht gewachsen und starb. Die Arbeitsfähigen mussten Zwangsarbeit leisten. Vor den Deportationen wurden die wenigen mitgebrachten Einrichtungs- und Wertsachen vom Fiskus eingezogen, darüber gibt es genaue Listen, die von Gerichtsvollziehern aufgestellt wurden. Nur Handgepäck war erlaubt. Vor der Deportation durfte die Unterkunft nicht verlassen werden oder die Menschen wurden in Sammellagern zusammengepfercht. Julius Schwabe wusste, was auf ihn zukam, und beging vor der Deportation von Hamburg nach Riga im Oktober 1941 Selbstmord.
Zwischen Oktober 1941 und Juli 1942 wurden die Menschen von Hamburg, Bremen, Dortmund, Düsseldorf, Essen, Herne und Berlin mit der Reichsbahn in die Ghettos von Lodz, Minsk, Riga und Theresienstadt deportiert. Aus den Ghettos Lodz und Theresienstadt sind manchmal exakte Todesdaten überliefert. Es ist hier von Tod durch Unterernährung und Krankheit auszugehen. Wir wissen in einigen Fällen etwas über die konkreten Umstände dieser letzten Lebensphase, die ich aber hier nicht umfassend darstellen will.
Kurz vor der Ankunft der aus Hamburg und Hannover Deportierten in Riga, mit insgesamt auch 9 Juden aus Jever, ermordeten im Dezember 1941 deutsche und lettische Einsatzkräfte die Insassen einen großen Teils des Ghettos von Riga, um Platz für die reichsdeutschen Juden zu schaffen. Im Wald von Rumbula, 8 km vor Riga, wurden ca. 28.000 Juden vor vorbereiteten und zum Teil selbst gegrabenen Gruben erschossen. Ein Schicksal solcher Erschießungen in der Umgebung kam auch auf die deutschen Juden zu, es sei denn, sie waren für die kriegswichtige Textilproduktion unentbehrlich und sie überlebten die Ghettobedingungen zumindest für eine Zeit. Über den Schneidergesellen Alfred Schwabe wissen wir, dass er in einem Arbeitslager bei Riga bei einem Fluchtversuch erschossen und seine Leiche zur Abschreckung öffentlich ausgestellt wurde. Von Minsk aus, hierhin wurden 5 Juden aus Jever verschleppt, führte ein Bahnanschluss zum 12 km entfernten Massenerschießungsplatz Maly Trostenez , auch Vergasungsomnibusse wurden eingesetzt. Hier starb unter anderen Nanni Levy, die Mutter von Fritz Levy.
Bertha Gröschler aus Jever, die Schwester der Synagogenvorsteher Hermann und Julius Gröschler, lebte seit 1938 in Varel in einem Heim für pflegebedürftige jüdische Frauen. Die Heimbewohnerinnen wurden Anfang 1940 nicht vertrieben, sondern zusammen mit den Menschen einer ähnlichen Einrichtung in Emden am 23. Oktober 1941 von Emden aus nach Berlin deportiert und von dort einen Tag später in das Ghetto von Lodz, in dem an jedem Tag ungefähr 100 Menschen an Unterernährung und Krankheit starben, weiterverschleppt. Die Deportation Varel – Emden – Berlin – Lodz ist eine der zwei direkten Deportationen aus unserer Region in die Vernichtungsgebiete und gleichzeitig die erste, denen jemand aus Jever zum Opfer fielen.
Anfang 1943 starteten die Güterzüge in das auf Vernichtung spezialisierte Lager Auschwitz-Birkenau, für die jeverschen Juden meist von Berlin aus. Das Deportationsdatum wird hier fast immer mit dem fast nie dokumentierten Todesdatum identisch sein. Allein der Tod von Helmut Josephs aus der Mühlenstraße ist dokumentiert, weil er in den Bunawerken bei Auschwitz Zwangsarbeit leisten musste und nicht sofort umgebracht wurde. Das Ghetto Theresienstadt bei Prag besaß eine besondere Funktion als eine Art Täuschungslager. Von hier aus erfolgten in vielen Fällen weitere Deportationen nach Auschwitz, wie z. B. des Ehepaars Julius und Hedwig Gröschler. 18 jeversche Juden starben in Auschwitz.
Die in den Niederlanden Aufgegriffenen kamen in das Durchgangslager Westerbork bei Groningen und wurden von dort 1943 meist in das Vernichtungslager Sobibor deportiert. Die Züge liefen häufig auf der Strecke Leer – Oldenburg, standen stundenlang ungeöffnet auf Nebengleisen und blieben nicht unbemerkt. Der nach Frankreich geflohene jüdische Lehrer Hartog und seine Ehefrau kamen über das Durchgangslager Drancy bei Paris nach Auschwitz.
Die in sogenannter Mischehe lebenden Juden, aber auch ihre Ehepartner und ihre Kinder lebten in ständiger Ungewissheit, was mit ihnen geschehen würde. Selbstverständlich war ihnen bekannt, dass im Osten Europas ungeheuerliche Verbrechen stattfanden. Es war klar, dass eine Scheidung für den jüdischen Teil die Deportation bedeutete. Erich Levy musste zur Zwangsarbeit nach Berlin, seine Frau Ruth wurde in Jever übel schikaniert, weil sie sich nicht trennte. Erna Hirche wurde wegen angeblicher Brandstiftung und Sabotage für 10 Monate ins Gefängnis gesteckt. Ein Brandanschlag auf die Wohnung von Erna Hirche wurde dieser selbst in die Schuhe geschoben, sie kam wegen Brandstiftung und Sabotage für 10 Monate ins Zuchthaus.
Erna Hirche und Helene Klüsener erhielten Ende Januar den Deportationsbefehl nach Theresienstadt. Die Frauen suchten in Jever ein Versteck zu finden – ohne Erfolg. Frau Klüsener hatte als Hebamme ungezählten Familien zur Seite gestanden. Sie ging völlig verzweifelt in den Tod. Frau Hirches Selbstmord scheiterte. Sie erlebte, traumatisiert, die Befreiung allein dank glücklicher Umstände. Hans Mendelsohn war der Inhaber des früher bedeutenden Konfektionshauses „A. Mendelsohn“ am Kirchplatz in dritter Generation. Bereits sein Vater hatte sich taufen lassen, Hans Mendelsohn war mit einer Nichtjüdin verheiratet. Vom KZ Neuengamme bei Hamburg wurde er in einem Todesmarsch auf die „Cap Ancona“ verschleppt, die die SS vermutlich versenken wollte. Das ehemalige „Kraft-durch-Freude-Schiff“ wurde allerdings irrtümlich vorher, am 3. Mai 1945, von englischen Flugzeugen getroffen und sank. Hans Mendelsohn starb in der Neustädter Bucht wie auch weitere Tausende von KZ-Häftlingen.
Nur sehr wenige überlebten das NS-Terroregime. Änne Gröschler gelangte 1944 mit dem Transport 222 im Austausch gegen Volksdeutsche vom KZ Bergen-Belsen nach Palästina. Sie starb 1983 in Groningen. Hans Nebel aus der Prinzenallee überlebte Auschwitz und das KZ Groß-Rosen und ging in die USA. Käthe Löwenbergs Versteck in Groningen wurde nicht entdeckt.
7: Literatur- und Quellenangaben (unvollständig)
- Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz.- In: ders.: Erziehung zur Mündigkeit.- Frankfurt/M. 1970
- Aly, Götz: Hitlers Volksstaat: Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus.- Frankfurt/M 2005
- Auf dem Weg von Anne Frank: Spurensuche entlang der Gleise: Eine Broschüre mit Interviews von Zeitzeugen, die die Deportationszüge beobachtet haben.- Leer 2014
- Frerichs, Holger: Spurensuche: Das jüdische Altenheim in Varel 1937 – 1942. – Jever 2012
- Friedländer, Saul: Das Dritte Reich und die Juden: Verfolgung und Vernichtung 1933 – 1945.- Bonn 2006
- Gilbert, Martin: Endlösung: Die Vertreibung und Vernichtung der Juden.- Reinbek b. Hamburg 1995
- Handbuch der deutschsprachigen Emigration.- Darmstadt 1998
- Hilberg, Raul: Sonderzüge nach Auschwitz.- Frankfurt/M 1987
- Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. 3 Bd. – Frankfurt/M. 1994
- Kellerhoff, Sven: Nachgeordnete Dienststellen begannen den Völkermord.- In: Die Welt v. 8.5.2014 [Rezension von Mommsen]
- Kogon, Eugen / Langbein, Hermann (Hg.): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas: Eine Dokumentation.- Frankfurt/M. 1995
- Longerich, Peter: Der ungeschriebene Befehl: Hitler und der Weg zur Endlöung.- München 2001
- Mommsen, Hans: Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa.- Göttingen 2014
- Ogorreck, Ralf: Die Einsatzgruppen und die „Genesis der Endlösung“.- Berlin 1996
- Seibt, Gustav: Judenfeinde wie wir.- In: Süddeutsche Zeitung v. 12.8.2011 [Rezension von Aly, Götz: Warum die Deutschen? Warum die Juden?.- Frankfurt/M. 2011]
- Nds. Landesarchiv Oldenburg: Dep 25 Jev Akz. 39/1997 Nr. 311 („Ordner“)
- Privatarchiv H. Peters, Wilhelmshaven (u.a. Auswertung zahlreicher Anfragen und Recherchen bei Einwohnermeldeämtern, staatlichen und privaten Archiven; Zeitzeugeninterviews)