Übersicht der Einzelbeiträge
- Begrüßungsworte von Hartmut Peters, 24. April 1984 im Lehrerzimmer des Mariengymnasiums
- Rede des Projekts „Juden nach Jever“ (Antje Naujoks, Silke Kelling), 25. April 1984 im Audienzsaal Schloss Jever
- Rede von Käthe Löwenberg-Gröschler, der Sprecherin der Emigranten, 25. April 1984 im Audienzsaal Schloss Jever
- Lieselott Spitzer: Nachklänge zu dem Besuch ehemaliger Jeveraner jüdischen Glaubens (Mai 1984)
- Joanne Gale: Jews return to Jever (Juni 1984)
- Silke Kelling, Karen Krumrei und Antje Naujoks: Der Besuch und seine Vorgeschichte (Juli 1984)
- Werner Beyer: Der Besuch der jeverschen Juden im April 1984 (August 1984)
- Hartmut Peters: Entrissene Heimat und Kitt des Systems – über den Besuch der vom nationalsozialistischen Deutschland vertriebenen Juden Jevers (Juli 1984)
- Iko Andrae: Abrechnung ohne Hass – über die Wiederbegegnung von Juden mit ihrer Heimatstadt Jever (Juni 1984)
- Audio: Mitschnitt des Ehrenempfangs für die Emigranten, 25. April 1984 im Audienzsaal Schloss Jever
- Audio: Antisemitismus und der Pogrom vom 10.11.1938 in Jever: Juden aus Jever berichten
Basisartikel
Im April 1984 besuchten dreizehn in der nationalsozialistischen Ära aus Jever vertriebene Juden ihren ehemaligen Wohnort für eine Woche der Begegnung mit der Bevölkerung. Die Emigranten reisten meist in Begleitung des Ehepartners, der häufig ebenfalls eine jüdische Emigrationsbiographie aufwies, und in einem Fall auch mit den schon erwachsenen Kindern aus Argentinien, Kanada, den USA, England, den Niederlanden und Hamburg an. Ein Ehepaar, Rolf und Frances Sternberg, kam aus Termingründen bereits in der Woche vor dem Hauptbesuch. Weitere vier Besuche einzelner Emigranten aus den USA, Israel und England schlossen sich bis 1987 an.
Der Besuch war für die Vertriebenen ein aufwühlendes Erlebnis. Sie waren nicht nur diskriminiert und vertrieben worden – viele ihrer Eltern und Verwandten hatte das nationalsozialistische Deutschland ermordet. Sie hatten sich in den Jahren seit Kriegsende durch das entwürdigende und auf Zeit spielende bürokratische Gestrüpp der bundesrepublikanischen sog. „Wiedergutmachungsverfahren“ für erlittene materielle und körperliche Schäden durchkämpfen müssen. Und nicht zuletzt hatte ihr alter Wohnort – „Heimat“ kann man das wohl nicht nennen – sich die 39 Jahre seit dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nicht um sie, von denen die Mehrzahl inzwischen gestorben war, gekümmert.
Dass Menschen mit solchen biographischen Verletzungen sich dieser Rückkehrerfahrung mit nicht zu kalkulierendem Ergebnis dennoch unterzogen haben – dafür fehlen mir über 30 Jahre danach immer noch die Worte. Den Besuch der insgesamt 17 Emigranten aus Jever (zusammen mit ihren Ehepartnern und Kindern kamen 33 Personen) halten viele für das wichtigste historische Ereignis im Jever der Nachkriegszeit. Er wirkt bis heute nach. Er war die Voraussetzung für eine wirkliche Auseinandersetzung der Stadt mit ihrer früh braunen und antisemitischen Vergangenheit und stiftet bis heute lebendige Kontakte zwischen den Vertriebenen und jungen wie auch älteren Einwohnern des ehemaligen Wohnorts. Auch zwischen den Vertriebenen, die sich meist jahrzehntelang aus den Augen verloren hatten, wurde ein alter Faden wieder aufgenommen. Die Emigranten, die der Einladung aus Gründen der seelischen Belastungen oder einer prinzipiellen Abkehr vom Land der Mörder nicht folgen wollten oder aus Alters- und Krankheitsgründen die strapaziöse Reise nicht mehr auf sich nehmen konnten, zeigten sich an den Geschehnissen interessiert, wie den Absagebriefen zu entnehmen war.
Vor allem die Emigranten aus England und den Niederlanden kamen nach Auflauf des Besuchsprogramms gelegentlich erneut nach Jever. Auch Gegenbesuche aus Jever in den Niederlanden, England, in Israel und den USA fanden statt. Viele persönlichen Briefe und Rundbriefe wurden geschrieben. Einzelne Emigranten, wie z. B. Prof. Dr. Rolf Sternberg, USA, besuchten in regelmäßigen Abständen ihre Freunde in Friesland. Im Jahre 2017 sind noch zwei der Besucher der 1980er Jahre am Leben, ihre Nachkommen stehen häufig in Verbindung zu Jever, wie einige Besuche der Angehörigen der sogenannten „second generation“ in den letzten Jahren zeigen. Das 2014 gegründete GröschlerHaus, sozusagen der Erbe des Projekts, ist für sie als Fixpunkt von besonderer Bedeutung und findet positive Begleitung.
Im Nordwesten Deutschlands hatte es zu Beginn der 1980er Jahre erst einen Besuch dieser Art, den Emdener, gegeben. Bis dahin hatten auch hauptsächlich nur in Großstädten Emigranten eingeladen. 1985 folgte das ermutigte Oldenburg Jever nach. Jever wies eine vielleicht bis heute bestehende Besonderheit auf: Generalorganisator – Finanzierung, Einladung, Flugbuchungen, Programme u.a.m. – war nämlich eine Projektgruppe von anfänglich acht Schülerinnen und Schülern und zwei Lehrern des Mariengymnasiums Jever, die außerhalb des regulären Schulunterrichts arbeitete, keine öffentliche Körperschaft oder ein Verein. Die Gruppe hatte anlässlich der Eröffnung ihrer Ausstellung „Zur Geschichte der Juden Jevers“ am 44. Jahrestag des Novemberpogroms von 1938, dem 9. November 1982, die Stadt Jever aufgefordert, dem Beispiel anderer Städte zu folgen und die vertriebenen Juden einzuladen. Als die Gremien der Stadt den Vorschlag ablehnten, übernahm die Projektgruppe „Juden nach Jever“ im Frühjahr 1983 die Organisation. Die Finanzierung erfolgte durch die zeitaufwändige Akquirierung von Spenden mittels verschiedenster Methoden. Bei einer Haussammlung machten die Projektkursmitglieder und ihre Helfer aus der Schülerschaft auch sehr negative Erfahrungen. „Für Juden sammelst du? Die wollen wir hier nicht mehr haben!“ Der Sammler hatte fast die Tür im Gesicht. Finanzielle Unterstützung fand die Gruppe bei zahlreichen Einwohnern der Stadt und insbesondere bei der jungen Generation. Aus dem politischen Bereich kamen umgehend Spenden von den Ortsverbänden der Grünen und der Jungsozialisten. Die Ortszeitung, bei der Anfang der 1980er Jahre ein Generationswechsel stattgefunden hatte, berichtete angemessen über die Aktivitäten der Gruppe. Schließlich steuerte auch die Stadt Jever einen größeren Betrag bei. Am Schluss blieb sogar Geld übrig, das zurückgezahlt wurde. Sämtliche Reise-, Unterbringungs- und Verpflegungskosten in der Gesamthöhe von 50.000 DM wurden erstattet.
Als sich Ende 1983 die Realisierung des Besuchs abzeichnete, kündigte der Kirchenrat der ev.-luth. Kirche, deren Stadtpfarrer Volker Landig schon vorher dem Projekt unermüdlich geholfen hatte, seine Unterstützung an. Das war für die Gestaltung des Programms der Besuchswoche von großer Bedeutung. Das alteingesessene Bürgertum der Stadt blieb jedoch insgesamt eher skeptisch und passiv, sieht man vom ehemaligen Bürgermeister Ommo Ommen, dem Ehepaar Hannelore und Oswald Andrae und wenigen anderen ab. Eine wichtige Unterstützung kam von außen, von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Oldenburg e.V., deren Repräsentanten Dr. Enno Meyer, Carl-Gustav Friederichsen und Eric Collins immer mit gutem Rat zur Seite standen. Als 1986 „Hartmut Peters und das Schüler-Lehrer-Projekt >Juden besuchen Jever< … für ihr jahrelanges Engagement um deutsch-jüdische Aussöhnung am Beispiel der eigenen Heimatstadt“ (Verleihungsurkunde) die Theodor-Heuss-Medaille der gleichnamigen, renommierten Stiftung bekamen, begannen die Ressentiments in Jever zu schwinden.
Die Besuchswoche von Ostern 1984 besaß eine ganze Reihe von Höhepunkten. Hiervon seien an erster Stelle genannt: das erste Zusammentreffen der Gruppe im Lehrerzimmer des Mariengymnasiums samt anschließendem gemeinsamen Stadtspaziergang, der offizielle Ehrenempfang durch die Stadt Jever und die Projektgruppe im Schloss zu Jever, die Begegnungen mit Einwohnern und Schülern, die Sabbatfeier zusammen mit dem niedersächsischen Landesrabbiner Dr. Henry G. Brandt in der Pastorei sowie der Gemeinschaftsgottesdienst in der Stadtkirche unter Mitwirkung des Landesrabbiners, eines katholischen und eines ev.-lutherischen Geistlichen sowie von Walter S. Groschler, dem Sohn des langjährigen Vorstehers der jüdischen Gemeinde, als Lektor.
Die Dokumentation präsentiert die Begrüßungsrede von Hartmut Peters am 24. April 1984 im Lehrerzimmer des Mariengymnasiums, die beim Ehrenempfang am 25. April von der Projektgruppe und von der Sprecherin der Besucher Käthe Löwenberg-Gröschler gehaltenen Reden (nach den originalen Manuskripten) und einen Audiomitschnitt des Ehrenempfang als Originalmaterialien. In den Monaten danach erschienen Nachbetrachtungen von Teilnehmern und Organisatoren in Zeitungen und Zeitschriften, z.T. in englischer Sprache. Sie geben Einblicke in die Wirkung bei Besuchern und Organisatoren und zeigen die Genese des Projekts sowie seine leitenden Motive in einem nicht durchweg proaktiven Umfeld auf. In die Texte hat der Herausgeber Fotos und Materialien eingebaut, die die Erstveröffentlichungen weitgehend nicht präsentierten. Der Besuch wurde seinerzeit auch von Radio Bremen in verschiedenen Sendungen gefeatured.
(Hartmut Peters, Dezember 2016; alle Abbildungen Sammlung H. Peters)