von Hartmut Peters
Inhaltsverzeichnis
- Die Anfänge
- Die „Zerstörung Jerusalem“ im Jahre 1732
- Die Kehrtwende in der Politik gegenüber den Juden 1776
- Die pogromähnlichen Auschreitungen in Neustadt-Gödens, Jever und Kniphausersiel 1782
- Die Errichtung der Synagoge 1802
- Literatur und Quellen
1) Die Anfänge
Das erste Zeugnis für eine dauerhafte jüdische Niederlassung in Jever ist der Schutzbrief für Meyer Levi, ausgestellt vom Fürsten Karl Wilhelm von Anhalt-Zerbst (reg. 1667 – 1718) am 25. Juli 1698 in Zerbst. Jever stellte damals eine Exklave des gleichnamigen, an der mittleren Elbe gelegenen kleinen Fürstentums dar. Meyer Levi, von dem in Jever Nachfahren bis zu ihrer Vertreibung in der Zeit des Nationalsozialismus lebten, hatte „für sich und seine Kinder“ ersucht, „unter fürstlichem Schutz und Schirm in der Herrschaft Jever beständig zu wohnen, auch hierzu ein bequemes Häusgen einzukaufen.“ Zwar wurde ihm der Kauf eines Hauses verwehrt, doch verbriefte das Dokument für Levi, seine Familie und auch seine Nachkommen, „wann sie sich nach seinem Tode in einer Familie behalten und nicht weiter ausbreiten werden“, Aufenthaltserlaubnis in Jever. Im Mittelpunkt des „Begnadigungsbriefes“ steht die Zusicherung an „Meyer Levi und denen Seinigen“, ihr Gewerbe weiter wie bisher ausüben zu können, „die Nahrung zu treiben“, wie man sich an der Wende zum 18. Jahrhundert ausdrückte. Gleichzeitig jedoch schränkte die Obrigkeit die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Juden ein: Er dürfte „den jeverschen Unterthanen die Nahrung nicht entziehen.“ Auch machte der Fürst eindringlich klar, dass eine Vertreibung aus Jever nur dann nicht erfolgen werde, wenn die Juden „sich in gehörigen Wegen“, „auf eine zulässige Art“ und „allen von Seiner Hochfürstlichen Durchlaucht ausgelassenen und noch auszulassenden Verordnungen gemäß verhalten werden.“ (1)
Aus dem Begleiterlass aus Zerbst an die Regierungsstelle in Jever lassen sich Hintergründe für die Bestimmungen des Schutzbriefes erkennen, Einsichten über die damalige Einstellung zu den Juden gewinnen und Rückschlüsse auf die berufliche Tätigkeit von Meyer Levi ziehen. Der nachgesuchte Ankauf von Immobilien könne nicht gestattet werden, da ein von Fräulein Maria erlassenes und auch von den ihr folgenden Oldenburger Grafen stets beachtetes Verbot, „die Secten und Rotten der Wiedertäufer und Sacrament-Schänder nicht im Lande zu dulden, billig ex paritate rationis [aus Gleichheitsgründen, H.P.] auf die Juden zu ziehen“ sei. Die Duldung von Meyer Levi wurde den Regierungsbeamten in Jever damit begründet: „Weil er sich bisher gar wohl gehalten, Unsern Jeverschen Unterthanen ihre Nahrung nicht entzogen, sondern vielmehr denenselben bei aller Gelegenheit an die Hand gegangen, auch Unserer dortigen Rentcammer mit Wechsel-Brieffen auch sonsten nützliche Dienste erwiesen“ habe. Als „vornehmsten“ Grund hege man aber die durch sein bisheriges gutes Benehmen genährte „Hoffnung, dass er oder die Seinigen sich einst bekehren mögten.“
Die Regierung in Jever hatte ihren ersten Schutzjuden mündlich zu ermahnen,„in seiner bisher erwiesenen Treue fortzufahren und sowohl Unserer fürstlichen Cammer mit fernerweitigen unterthänigsten Dienstleistungen, als auch Unseren sämtlichen jeverschen Unterthanen mit aller geziemenden Willfährigkeit an Händen zu gehen und von unzulässigem Wucher, wie auch Erhandlung aller diebisch entwendeten Sachen sich zu enthalten.“
Den jüdischen Bewohnern Jevers wurde aufbedungen, „niemanden zu ihrer Lehre zu verleiten, sondern vielmehr sich Unsers öffentlichen Gottesdiensts nicht gänzlich zu entziehen und solchen zu Zeiten zu besuchen.“
Als Gegenleistung trug der Fürst an der Elbe der Obrigkeit in Jever auf, „Meyer Levi und denen Seinigen zureichenden Schutz und Schirm zu leisten, sie von niemand wider Recht zu belasten, sondern ihnen dieser Unserer gnädigsten Concession fruchtbarlich genießen zu lassen.“ (2)
Es ist nicht überliefert, wie viel Geld Meyer Levi in die fürstliche Schatulle hat einzahlen müssen, um in den ,Genuss‘ dieser eingeschränkten Rechte zu gelangen. Die zitierten Dokumente machen deutlich, dass Meyer Levi bereits vor 1698 in oder bei Jever ansässig war (3), Bankgeschäfte tätigte und gleichzeitig mit Waren handelte. Seine guten, auf gegenseitiger Nutzung beruhenden Kontakte zu den Regierungsstellen konnten jetzt offenbar dazu benutzt werden, seinen bisher rechtlosen Zustand zu beenden. Meyer Levi bezog zusammen mit seiner Familie, der vermutlich ein Geschäftsgehilfe angehörte, das zweite Haus der von der Schlachtstraße abzweigenden, 1650 angelegten Neuen Straße. (4)
In den Folgejahren wuchs die jüdische Gemeinde. Anlässlich der Huldigung für Johann August von Anhalt-Zerbst (reg. 1718 – 1742), der 1718 seinem Vater Karl Wilhelm nachfolgte, nennt eine am 8. August 1720 angelegte Liste der Untertanen in der Altenmarktsvogtei schon vier jüdische Haushalte, nämlich Meyer Levi und seinen Sohn Levi Meyer in unterschiedlichen Häusern der Schlachtstraße sowie die Schwiegersöhne Bendix Feilmann (vor dem Wangertor) und Simon Isaacs (5). Nimmt man pro Haushalt fünf Personen (Schutzjude, Ehefrau, Kinder, Knecht) an, bestand die jüdische Einwohnerzahl Jevers jetzt aus ungefähr 20 Menschen.
Als 1720 der neue Landesherr Johann August zwecks seiner Huldigung Jever besuchte, versuchte die Jeversche Landschaft die Ausweisung der Juden aus der Herrschaft Jever zu erreichen. Die Interessenvereinigung der ansässigen Stände wies in ihren Gravanima (Sammlung von Beschwerden) darauf hin, dass der ursprüngliche Schutzbriefinhaber Meyer Levi kürzlich verstorben sei, dass der Brief bestenfalls für die Witwe und ihre Kinder gelte aber nicht für das weitere „Geschwärm“, das im Übrigen Hehlerei beitreibe. „[Es] wäre nicht undienlich, dass sie gar außer Lande geschafft würden.“ (6).
Die im Schutzbrief von 1698 formulierte Beschränkung auf eine Familie blieb offenbar wirkungslos, solange nicht alle erwachsenen Kinder, die vor Ort einen eigenen Haushalt gründen wollten, ausgewiesen wurden, was andernorts durchaus geschah. Zu diesem Mittel wollte die Zerbster Herrschaft offensichtlich aber nicht greifen, sondern gab in den folgenden 25 Jahren einer Schaukelpolitik zwischen Duldung und Unterdrückung den Vorzug. Hiermit stand sie im Widerspruch zu den örtlichen Kräften, die die Juden aus Jever am liebsten weiterhin vollständig vertreiben oder zumindest auf eine Familie reduzieren wollten. Riemann berichtete 1931 über von ihm eingesehene Regierungsakten: „In allen von der Landschaft eingereichten Beschwerden erscheint seitdem bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts die regelmäßige Bitte, dem Kammer-Juden Meyer Levi die Konzession zum Handelsbetrieb und zur Wohnung im Lande nicht mehr zu erteilen. „ (7)
Auch der christliche Bekehrungswunsch der Regierung erfüllte sich nicht – eher im Gegenteil. Die Juden standen trotz aller Anfeindungen fest zu ihrem Glauben und ihren Traditionen. Aus Jever ist für das 18. Jahrhundert nur eine Konversion bekannt, nämlich die aus verschiedenen Gründen untypische des 1708 in Brandenburg geborenen, zugereisten Copilio (Christian Fürchtegott) Liepmann von 1736. Sein Glaubensübertritt war von schweren, gegenseitigen Denunziationen zwischen Levi Meyer und Liepmann begleitet. Liepmann – gefördert vom Fürsten – arbeitete nach dem Besuch der jeverschen Lateinschule und dem Studium von 1744 bis zu seinem Tod 1779 als Pfarrer in Gemeinden des Jeverlandes. (8)
Bereits zu Zeiten des ersten jeverschen Schutzjuden Meyer Levi, der ungefähr 1720 verstarb, fanden in dessen Haus Gottesdienste oder gottesdienstähnliche Feiern für seine Glaubensgenossen statt, und zwar zunächst offenbar relativ unbehindert. Am 26. Oktober 1725 informierte dann aber Fürst Johann August seinen Vetter Johann Ludwig, seit 1720 Statthalter in Jever, darüber: „Dass die zu Jevern wohnenden Juden seithero in Levi Meyers, und ehemals auch in dessen Vaters Haus cultum privatum [privaten Gottesdienst, H.P.] exerciret, und dabei sich deren Neustädter und anderer Rabbiner bedient, ja, dass auch genannten Levi Meyers Schwäger und Brüder sich gar unterstehen wollen, einen öffentlichen Gottesdienst zu etablieren und dass sie dazu bereits ein gewisses Haus gemietet gehabt. “ (9) Dies habe er aus den ihm zugesandten Regierungsprotokollen ersehen. Im Schutzbrief von 1698 sei zwar die Abhaltung eines jüdischen Gottesdienstes nicht ausdrücklich gestattet worden, jedoch sei dieser in Anlehnung zu den im Begleiterlass genannten Sakramentsschändern zu verbieten. Johann August an der Elbe befahl: „Deshalb ist den Juden in Unserer Herrschaft Jever ihr Cultus, weder privatim, noch publice [weder privat, noch öffentlich; H.P.] zu gestatten, sondern sie sind allenfalls damit an die benachbarten Orte, allwo jüdische Synagogen vorhanden, zu verweisen“. Um diesem umfassenden Verbot des Gottesdienstes, selbst in den eigenen vier Wänden, Nachdruck zu verleihen, waren die Juden „fleißig zu ermahnen“, sich an den Erlass von 1698 zu halten und den christlich-lutherischen Gottesdienst „zu Zeiten“ zu besuchen. Wenn die Chance ihrer Bekehrung noch mehr schwinden würde, werde er „den von Uns ohnedies nicht confirmierten Schutzbrief gänzlich aufheben.“ Die Juden in Jever und Umgebung hatten offenbar begonnen, einen öffentlichen Betraum in Betrieb zu nehmen, das war jetzt des Jüdischen zuviel und der Fürst drohte mit Vertreibung.
Doch nicht nur gegenüber den Juden, sondern auch im Verhältnis zu den Römisch-Katholischen und den Reformierten zeigte sich diese Unduldsamkeit. Beide Religionsgruppen ließen sich, wie Johann August von seinem Besuch Jevers im Jahre 1720 wusste, aus Nachbarorten Geistliche zur Austeilung des Abendmahls zu sich kommen, wodurch sie sich eine Religionsausübung anmaßten, die „nicht minder wider die jetzige Landes-Verfassung lauffet.“ Das sei künftig nicht mehr zu dulden, „zumal ein jeder, welcher solchen Religionen zugetan ist, Gelegenheit hat, an verschiedenen benachbarten Orten dieselbe ungehindert und frei auzuüben.“ Der Fürst versuchte, ausgewogen zu reglementieren, indes nur die Juden für den Aufenthalt ein Schutzgeld zu zahlen hatten. Am 1. April 1726 wurde den Katholiken und Reformierten angezeigt, dass sie künftig keine Prediger ihrer Konfession ins Jeverland mehr kommen lassen dürften. (10) Den jüdischen, reformierten und katholischen Einwohnern wurde das zweieinhalb Wegestunden (13 km) von Jever entfernte Neustadtgödens anempfohlen. In diesem Flecken in der Herrlichkeit Gödens wetteiferten bereits jetzt reformierte, katholische und lutherische Kirchen miteinander um die Seelen. Auch den Juden dort war vom Grafen der Herrschaft freie Religionsausübung gestattet worden, und sie besaßen einen Betsaal. (11) Näher lag die kleine Herrlichkeit Kniphausen, wo seit 1716 eine Zahl an Schutzjuden zugelassen war, die in einem Betraum im Dorf Fedderwarden ihren Glauben ausüben durften, oder auch Wittmund. Das Verbot von Land-und Hausbesitz für Mennoniten, Juden, Katholiken und Reformierte wurde am 14. August 1724 durch Erlass festgeschrieben und galt bis fast zum Ende des Jahrhunderts. (12)
Trotz der Drohungen fanden die jüdischen Gottesdienste in Jever dennoch weiter statt, und zwar nicht unbedingt im Verborgenen. Am 14. Juli 1732 ging erneut ein Schreiben des Fürsten von Zerbst nach Jever, da „Levi Meyer, nebst der übrigen Judenschaft in Jevern, sich unterstanden, eine Synagoge anzulegen, die nicht allein von denen dort einheimischen, sondern auch fremden Juden und Rabbinern in ihrem jüdischen Priesteraufzug mit öffentlichem Singen besucht worden.“ Der Advocatus Fisci, eine Art von Gerichtsvollzieher, überreichte darauf Levi Meyer und seinen „Consorten“ einen Strafbefehl über 20 Goldgulden. (13) Das war eine große Summe, aber für den Kaufmann Levi Meyer offenbar noch leistbar.
2) Die „Zerstörung Jerusalem“ im Jahre 1732
Sechs Wochen nach dieser Geldstrafe, am 7. Oktober 1732, musste sich Levi Meyer nun selbst an seinen Landesherrn wenden, denn dessen geistliche Verwaltungsbehörde zu Jever, das Konsistorium, hatte aus dem Laubhüttenfest der Judenschaft in Jever „eine Zerstörung Jerusalem“ gemacht, wie Levi Meyer plastisch den Sachverhalt beschrieb. Ausführlich schilderte das Oberhaupt der jüdischen Gemeinde den Hergang der Ausschreitungen. Seine Schilderungen seien hier ausführlich zitiert, denn sie geben einen Einblick in die Lage der Juden Jevers, als der Atem der Aufklärung mit Sicherheit noch nicht um den Schlossturm wehte. (14)
Gemäß der Aufforderung der Schrift hatte Levi Meyer sich mit seiner Familie auf das Laubhüttenfest vorbereitet: „Am verwichenen 4. September hat dieses Fest seinen Anfang genommen, da dann vor dem Fest wir hinter unsern Häusern eine Hütte von Brettern zusammen geschlagen und mit allerhand grünen Zweigen oben bedecken, welches wir nirgendes zu brauchen, als während 7 Tagen darinnen zu essen. Welches wahrlich allen Juden, so in der ganzen Welt wohnen, frei stehet, ja sogar auf der Straße vor ihren Türen, wenn sie keine Gärten hinter ihren Häusern haben „. Levi Meyer, ein weitgereister Geschäftsmann, weist nun auf die ganz andere Situation in Leipzig hin, um die Rückständigkeit Jevers zu verdeutlichen. Während der Michaelis-Messe habe er dort mehrfach in einer der zahlreichen Hütten auf den Straßen das Laubhüttenfest feiern können. Der Leipziger Magistrat schütze „bei großer Strafe“ den jüdischen Kultus. „Uns arme und bedrückten wenigen Juden aber hat man den 4. September, also am Sonnabendabend, solchergestalt überfallen, und zwar auf Ansuchung des Advocatus Fisci Warners. Sie pochten um 9 Uhr in der Nacht vor meiner Tür an. Da dann solche offen gemachet worden, kommen 6 Mousquetiers mit einem Unterofficier, und alle mit geladenem Gewehr, wie auch des Advocatus Fisci sein Executeur mit der größten Brutalität in meine Stube. Da sind wir sämtlich, wie leicht zu erachten, in Ohnmacht und Schrecken gefallen, weil wir im geringsten von nichts gewusst haben. Und sie sagten, sie wollten hinten in den Hof gehen, wo meine Hütte stünde. Wie wir sie dann mit der größten Aufregung dahin weisen, da fangen sie an, alles was in der Hütte hänget, kurz zu reißen, und spoliieren alles, was darinne ist, und werfen alles über den Haufen und sagten dabei, sie hätten solche ordre von dem Consistorio“. Levi Meyer gelingt es, die sechs Musketiere von der Zerstörung der Kultgegenstände und des Mobiliars abzubringen, aber die Hütte wird umgeworfen. „Aber der Executeur von dem Advocatus Fisci hat sich nicht daran kehren wollen, sondern alles spoliiret [zerstört, H.P.]und dabei zu mir gesagt, er hätte solche ordre. Das Behangseil in der Hütte von rotem Daffet, so ich noch von meinem seel. Schwieger-Vater geerbt gehabt, hat der Executeur ebenfalls kurz gerissen. Was innwendig mit Cronnen und sonst Zierlichkeit behangen gewesen, hat er alles über den Garten auf die Straße geworfen.“
Auch bei den anderen jüdischen Haushalten Jevers riss das christlich-geistliche Überfallkommando die Laubhütten ein, aber ohne Zerstörung der Einrichtung wie bei Levi Meyer. Dieser berichtet von einer Art Volksauflauf und den traumatischen Folgen des Überfalls: „Die ganze Straße ist schwarz gewesen von lauter lieben Seelen. Obschon viele Christen gebeten haben, sie möchten mir keinen Schaden tun, und groß Mitleiden mit mir gehabt, hat aber alles nichts helfen wollen. Meine Frau lieget bis diese Stunde noch vor großer Alteration krank, meine Schwester, welche mit schwerem Leibe gehet, lieget sehr gefährlich krank wegen des großen Schreckens. Solches Exempel ist wohl mein Lebtage an keinem einzigen ehrlichen Juden in der Welt exerciret worden, und müssen wir armen Juden noch alle Tage in Schrecken und Furcht leben, weil der Advocatus Fisci noch mehr droht.“
Levi Meyer weist den Fürsten darauf hin, dass Warners ihm bereits als jeverscher Advokat seine Feindschaft gezeigt, ihm früher schon übel mitgespielt habe und jetzt – nach seiner Ernennung zum Fiscal – verkünde: „Nun er Fiscal geworden, wollte er machen, dass die Juden allhier sollten ausgerottet werden.“Der Fürst möge deshalb erlassen, „dass wir nach Juden-Manier frei leben mögen“ und dass der Vollstreckungsbeamte des Fiscals ihm Schadensersatz leiste, „denn wenn es auf solchem Fuß bleiben sollte wie gegenwärtig, so wäre kein einziger Jude allhier sicher eine Nacht in seinem Hause.“ Abschließend klärt Levi Meyer den Fürsten noch auf, dass die Juden in ihren Laubhütten gar keine Gottesdienste abhielten, sondern nur sieben Tage lang darin äßen. Auch hätte ihm ja das jeversche Konsistorium zunächst ein strafverwehrtes Verbot des Laubhüttenfestes zukommen lassen können.
Eine Antwort aus Zerbst ist nicht überliefert. Der Jude wird mit seinem selbstbewussten Schreiben wohl nur wenig, vielleicht eine gewisse Milderung der örtlichen Behördenwillkür erreicht haben. Der gewünschte Erlass, „nach Juden-Manier frei (zu) leben“, kam erst 44 Jahre später, wie die weiteren Restriktionsmaßnahmen bis 1776 zeigt. Selbst wenn der ferne Fürst es gewollt hätte, – die selbstherrlichen jeverschen Beamten, die zur Willkür neigten (15), hätte er nicht vollständig zügeln können. Allerdings gelang es auch nicht, die Juden vollständig von ihren religiösen Gebräuchen abzuhalten. Am 29. Januar 1734 befahl Fürst Johann August eine Untersuchung, weil die Brandmeister der Vorstadt bei einer Kontrolle der Brandmauern einen zur „Haltung einer Synagoge“ geeigneten Ort gefunden hatten, und zwar auf dem Dachboden von Levi Meyers Haus. Das Konsistorium berichtete am 9. März 1734, dass vor allem bei den katholischen und reformierten Untertanen diese Synagoge „ein ungleiches resonnement verursachet, als wenn denen Juden etwas erlaubet, was ihnen jedoch noch als Christen verboten.“ (16) Nach dem Erlass vom 1. April 1726 hatten sich ja Katholiken, Reformierte und Juden gleichermaßen für ihre Gottesdienste in die Nachbarschaft zu verfügen. (Das „noch“ zeigt an, dass nichtlutherische Christen nicht mit Juden gleichgestellt waren, obwohl für sie dieselbe Intoleranz gelten sollte. Es ist nicht bekannt, dass nichtlutherische Hausfeiern ebenso unnachsichtig verfolgt wurden.) Das Konsistorium klagte dem Fürsten im genannten Schreiben, dass, obwohl man Levi Meyer 1732 die Laubhütte weggerissen hatte, er 1733 eine neue auf seinem Hof errichtet hätte, „nicht zu gedenken, dass bei Levi Meyer als ältestem von der Juden-Familie alle Sonnabend die Lampe brennet.“ Die Sabbatfeier der jeverschen Juden war den örtlichen Glaubensverwaltern ein Dorn im Auge.
Postwendend verordnete Johann August darauf am 19. März 1734, dass Levi Meyer innerhalb von vier Wochen „die Synagoge gänzlich wegschaffen müsse“, sonst würde er mit den übrigen in Jever außerdem geduldeten Juden vertrieben werden. Der Fürst untersagte ferner in scharfem Ton eine jüdische Religionsschule, ja sogar die Hauslehrertätigkeit des Vorbeters: „Es ist auch keineswegs zu gestatten, dass die Juden-Kinder in eine Schule zusammen geschicket werden oder der jüdische Praeceptor von einem Hause, informirens halber, zum andern ziehen dürfe, widrigenfalls derselbe ohnfehlbarlich fortzuschaffen ist und dergleichen nicht zu duldendes Unternehmen die gänzliche Austreibung derer Juden um so vielmehr veranlassen wird.“
Ein Fortschritt ist jedoch darin zu sehen, dass jetzt zum ersten Mal einem Juden der häusliche Gottesdienst schriftlich gestattet wurde: „Der Privat-Gottesdienst in seinem Hause vor sich und die bei ihm wohnen, bleibet ihm unverwehret, und er ist darinnen, so es in gehörigen Schranken geschiehet, nicht zu stören.“ (17)
Dieses wurde am 3. Mai 1734 Levi Meyer, Philipp Moses, Simon Isaac, Roschen Feilmann und Joseph Meyers Witwe mitgeteilt. Die Untersuchung gegen Levi Meyer wegen Anlegens einer Synagoge war zur Zeit des Erlasses vom 17. März 1734 noch anhängig; es folgte am 22. März eine weitere Verfügung aus Zerbst, dass keine neue Geldstrafe zu verhängen sei, da Levi Meyer versichert hatte, dass sie in den zwei Jahren seit der letzten Verurteilung zu 20 Goldgulden Strafe keine öffentliche Versammlung mehr abgehalten hätten. (18) Diese Milde war eine Laune der Großherzigkeit, oder man konnte Levi Meyer konkret nichts nachweisen, denn gut ein Jahr später, am 22. Juni 1735, wurde er zu 30 Goldgulden verurteilt, weil er „fremde oder sonst in der Vorstadt wohnende und in seinem Brot und Dienst nicht stehende Juden in den ihm nachgelassenen Privat-Gottesdienst mitzuziehen sich unterfangen“ hatte. Die Verurteilung erfolgte auf erneute Denunziation und Vorladung durch den jeverschen Fiscal. (19) Da für einen jüdischen Gottesdienst nun einmal mindestens zehn männliche Personen über dreizehn Jahre benötigt werden, war ein Konflikt im Grunde vorprogrammiert. Diese ließen sich nun einmal nicht in einem Haushalt finden.
Im Herbst 1735 errichtete Levi Meyer erneut und unbeirrt eine Laubhütte und das Konsistorium beauftragte wiederum den Schlosshauptmann, diese „manu militari [durch Militär, H.P.] demolieren“ (20) zu lassen. Im Jahre danach übrigens wurde der mittelalterliche Bergfried inmitten des Schlosses mit der markanten Zwiebelhaube gekrönt, eine kostspielige Baumaßnahme. Nach Werner Meiners war das jeversche Konsistorium „nicht nur Ausführungsorgan landesherrlicher Entscheidungen. Unter dem Vorsitz des Statthalters und späteren Landesherrn Prinz Johann Ludwig betrieb es aktiv die Bekämpfung der jeverschen Juden mit dem Ziel ihrer Vertreibung aus dem Land.“ (21)
Als nach dem Tod von Johann August der genannte, langjährige jeversche Oberlanddrost Johann Ludwig (reg. 1742 – 1746, zusammen mit seinem Bruder Christian August) auf den Fürstenthron kam, konnten Konsistorium und Jeversche Landschaft einen nachhaltigen Erfolg verbuchen. Am 2. September 1743 beklagte sich die Landschaft beim neuen Fürsten über die Juden und deren angeblich kriminellen Machenschaften und forderte, „diese in unserer Republique nichtnutze Leute dahin anzuweisen, dass von ihnen hiesige Herrschaft geräumt werde, wenigstens flehen die getreuen Untertanen, dass den Kindern hiesiger Judenschaft kein weiterer Schutz möge verliehen werden.“ (22) Am 23. März 1744 erging der Befehl, dass alle Juden innerhalb eines halben Jahres Jever verlassen sollten. Im Juni 1744 ließ Johann Ludwig die Landschaft wissen, dass er die bisherige Duldung des „Schutzjuden Levi Meyer“ nicht ausdehnen wolle, noch gestatten, dass sich weitere Juden „einschleichen.“ (23) Es folgte die Zerstörung der kleinen jüdischen Gemeinde durch die Ausweisung des Großteils ihrer Mitglieder.
Für die nächsten 30 Jahren ist in Jever nur noch die Familie von Bendix Feilmann nachzuweisen, der offenbar doch den Schutz seines verstorbenen Schwiegervaters behalten konnte, während Levi Meyer um 1743 wohl bereits verstorben war. Auch Simon Isaacs soll gestattet worden sein, bis an sein Lebensende in Jever zu bleiben. Die Kinder von Bendix Feilmann und Simon Isaac sowie die anderen Juden mussten Jever verlassen. Meyer Josephs, ein vermutlicher Neffe von Levi Meyer, wanderte um 1750 nach Nordamerika aus. Neue Familien durften sich nicht ansiedeln und die religiöse Unterdrückung wurde aufrecht erhalten. (24) Im Jahre 1767 bat Jacob Feilmann das Konsistorium, ihm wegen seiner Kränklichkeit zu erlauben, das Laubhüttenfest in Jever feiern zu dürfen. Er wolle sich auch um die Genehmigung des Fürsten bemühen und fünf Reichstaler an das Waisenhaus in Jever zahlen. Die Behörde schlug die Bitte ab, stellte Feilmann aber anheim, sich „höchsten Orts demütigst zu melden.“ (25)
3) Die Kehrtwende in der Politik gegenüber den Juden 1776
Der Toleranzgedanke der Aufklärung erschien im Jeverland plötzlich, unvermittelt und von außen. Deus ex Machina war der Anhalt-Zerbst, Jever und noch ein paar andere Landstriche regierende Fürst Friedrich August (reg. 1752 – 1793). Schon über zwei Jahrzehnte im Amt, guckte er sich bei anderen deutschen Territorialstaaten den lukrativen Soldatenhandel ab und setzte auf die wirtschaftlichen Vorteile religiöser Toleranz- bzw. Bevölkerungspolitik. Insgesamt 1.152 Soldaten, darunter auch viele zwangseingezogene Jeverländer, vermietete er ab dem Jahre 1775 an die gut zahlende englische Regierung. An verschiedenen Plätzen in Deutschland entstanden Zerbster Werbebüros, und regelmäßig wurden die Soldaten in das inzwischen mit Wehranlagen versehene Garnisonstädtchen Jever gebracht, denn hier konnte die Desertion am ehesten verhindert werden. Die „Ware“ wurde dann von Stade aus verschifft und diente dem Bemühen der englischen Krone, den nordamerikanischen Kolonien ihre gerade erklärte, demokratische Unabhängigkeit zu nehmen.
Der typische Duodez-Absolutist, Bruder von Katharina II. von Russland und von Basel und Luxemburg aus regierend, räumte jetzt allen Religionen und Konfessionen freie Religionsausübung ein. Unter den angeworbenen und noch anzuwerbenden Soldaten und Offizieren befanden sich Katholiken und auch Reformierte. Bereits 1776 stellte der Fürst den Katholiken Räume im Schloss zur Verfügung, bis seine Witwe im Jahre 1793 der katholischen Gemeinde ein eigenes Gebäude schenkte. (26) Der erste größere Gottesdienst nach katholischem Ritus fand am 2. Mai 1779 statt. (27) Anlässlich der Beisetzung des Sohnes eines katholischen Oberleutnants, die mit katholischer Zeremonie, wenn auch ohne Geläut, auf dem Stadtfriedhof erfolgte, bemerkte der Pastor ins Kirchenbuch von Jever: „Tempora mutantur, Et nos mutamur in illis.“ Die Zeiten ändern sich, und wir uns mit ihnen . . . (28)
Hatte bisher jüdischer Gottesdienst nur als Hausfeier bei Levi Meyer und seinen Nachfahren stattfinden können, so war jetzt – als Beiwerk wirtschaftlicher Liberalisierung – auch den Juden der volle öffentliche Kultus gestattet. Sie wurden sogar im maßgeblichen, öffentlich ausgehängten Erlass am 9. Mai 1776 wie die Christen aufgefordert , „eine Kirche oder Schule zu errichten (29)“. Auch das lange bestehende Zuzugsverbot und das Verbot des Immobilienerwerbs waren jetzt aufgehoben
Die Kehrtwende im Umgang mit den Juden förderte den Zuzug von Neubürgern, stärkte die Wirtschaftskraft des Ländchens und damit das Aufkommen an Steuern und Schutzgeldern, das der Fürst für seinen aufwändigen Lebensstil benötigte, wie auch die anwachsende Garnison die örtliche Marktfunktion stärkte. Bereits am 20. Februar 1777 erhielt Isaac Salomon Schwabe, ein „Schönfärber“ aus Varel, den ersten neuen Schutzbrief, ihm folgte ein Jahr später sein Bruder Levi Salomon Schwabe. Die Neubürger durften mit allen Waren, auch Fleisch, handeln und diese in einem Geschäft oder auch hausierend absetzen. Der Erwerb des Schutzbriefes kostete 50, das jährliche Schutzgeld 10 Reichstaler. (30) Im wirtschaftlichen und politischen Leben blieben sie dennoch weiterhin Sonderbestimmungen unterworfen. Die Regierung in Jever verfügte z.B. am 30. August 1780, dass kein Schutzjude mehr als einen Knecht, der sich auch wirklich in dessen Diensten befinden müsse, beschäftigen dürfe. Zudem musste jede Veränderung angezeigt und zum Hausieren der Knecht mit einem besiegelten Pass, der ihn als Gehilfe eines Schutzjuden auswies, versehen werden. (31)
Die Zahl der Juden im 1780 etwa 2.300 Einwohner zählenden Jever dürfte, als die Gemeinde die Etappe der religiösen Diskriminierung überwunden hatte, etwa 45 Personen betragen haben. 1780 existierten in Jever neun, 1793 bereits 17 jüdische Haushalte. Die jüdische Gemeinde Jevers entwickelte sich zur größten des (späteren) Oldenburger Landes, das berufliche Spektrum erweiterte sich.
Am 29. September 1779 konnten die Juden Jevers ihre erste offen geduldete Versammlungsstätte einweihen, nachdem sie in den Jahrzehnten zuvor immer wieder nur heimliche, kurzfristig bestehende und in Privatwohnungen befindliche Räume hatten benutzen können. Zur Miete befand sich die Synagoge bis ins Jahre 1802 in einem Hinterhause, einer umgebauten Scheune, und teilte sich den Platz darin mit zwei Wohnungen. Das Haupthaus war während der russischen Zeit (von 1793 bis 1818 stand Jever – mit Unterbrechung in Napoleonischer Zeit – unter der Herrschaft des Zaren) das Wirtshaus „St. Petersburg“. (32) Der Gebäudekomplex Ecke Schlachtstraße/Lohne, in Richtung Kirchplatz gelegen, wurde um das Jahr 2000 abgerissen.
Weiteren Ausdruck fand die Festigung der Religionsgemeinschaft im Jahre 1779 durch die Anlage eines großen Friedhofs außerhalb der Stadt bei Hohewarf. Der älteste erhaltene Grabstein stammt aus dem Jahre 1796. Es ist ungeklärt, ob ein älterer Friedhof in der Vorstadt bestanden hat. Falls dies nicht zutrifft, werden die jeverschen Juden ihre Toten zuvor wohl auf den jüdischen Friedhöfen von Wittmund oder Neustadtgödens bestattet haben. Die Juden gaben sich am 17. Juli 1780 eine detaillierte Synagogen- und Gemeindeordnung, die am 30. August 1780 von der Regierung in Jever bestätigt wurde. Aus dem in einer Abschrift erhaltenen Dokument geht hervor, dass bereits zuvor eine wohl eher informelle Ordnung bestanden hatte. Unter Punkt 19) heißt es: „Der Rabbiner oder Vorsänger ist schuldig, nach der Predigt für das Wohl des Fürsten und der Fürstin und der fürstlichen Familie, wie auch der anderen Obrigkeit, Gott anzuflehen und selbige zu segnen.“ Eigenhändig unterschrieben „gesamte jetzige Glieder der Gemeinde“: Isaak Schwabe, Meyer Feilmann, Moses Israel, Levi Schwabe, Israel Michels, Arend Abrahams und Moses Levi Jonas. (33) Die beiden Vorsteher der Gemeinde wurden jeweils auf zwei Jahre gewählt und behördlich bestätigt. Eine jüdische Schule existierte ebenfalls seit dieser Zeit.
4) Die pogromähnlichen Auschreitungen in Neustadt-Gödens, Jever und Kniphausersiel 1782
Teile der Bevölkerung erlebten die Tolerierung der Juden durch die Obrigkeit offensichtlich als bedrohlich. Die Aggressionen ereigneten sich in wirtschaftlichen Krisenjahren, die alle Einwohner des nordwestdeutschen Küstenraums – die christlichen wie die jüdischen – hart trafen, und waren durch alte Ressentiments gegen „die“ Juden genährt. (34)
Sie kamen zuerst gegen die damals schon fast emanzipierte und zahlenmäßig starke jüdische Gemeinde von Neustadt-Gödens offen zum Ausbruch. Im April des Jahres 1782 grassierte im Vareler, jeverländischen sowie Kniphauser Raum, aber vor allem in Neustadt-Gödens das Gerücht, Juden von Gödens hätten die Kreuzigung Christi „aus Muthwillen nachgeäffet.“ (35) Am Abend des 5. Mai, eines Markttages, – es war also auch allerhand Volk aus den umliegenden Gebieten versammelt -, wurden die Fenster mehrerer jüdischer Häuser in „Neu-Jerusalem“, wie der Ort genannt wurde, eingeworfen und schwere Drohungen ausgestoßen. Ein vorsorglich schon bereitgestelltes militärisches Kommando aus Emden griff ein. Als der eben erst auseinandergetriebene Mob erneut auf die Soldaten zustürmte, starben an den Kugeln zwei junge Männer, darunter ein Bauernsohn aus dem Jeverland (Neuende). Eine Bürgersfrau wurde schwer verletzt. Für einige Zeit darauf konnte nur Militär in Neustadt-Gödens den Frieden sichern.
An der Grenze von der Herrschaft Kniphausen griff die antisemitische Pogromstimmung auch auf das Jeverland über. Als zwei Tage später, am 7. Mai, der jeversche Markttag stattfand, wurden die den Markt besuchenden Juden so sehr belästigt, dass sie unter Polizeischutz aus Jever geleitet werden mussten. (36) Am 20. Mai, Pfingstmontag, rottete sich eine Volksmenge vor dem Haus des Schutzjuden Levi Feilmann zusammen, der in Kniphausersiel in unmittelbarer Nähe des jeverländischen Rüstringersiel wohnte, und drohte, sein Haus niederzureißen. Das wurde durch militärischen Einsatz von Kniphauser Seite unter Schusswaffengebrauch, aber unblutig verhindert. (37) Die Regierung in Jever reagierte am 22. Mai 1782 mit einer scharfen Verordnung, um diesem Ausbruch von Judenhass in der Bevölkerung zu begegnen: „Da man höchst missfällig [hat] vernehmen müssen, dass der Hass der hiesigen Untertanen gegen die Judenschaft so sehr überhandgenommen, dass solcher an verschiedenen Orten in bedenklichen Tätlichkeiten ausbrechen will, so wird ein jeder hiermit allen Ernstes obrigkeitlich gewarnet, an die hiesige oder auch fremde Judenschaft durch die mindeste Tätlichkeiten oder Beschimpfungen [sich] nicht zu vergreifen; sondern dieselben in ihren erlaubten Geschäften und Gewerben auf Reisen und Märkten und alle Wege ungestört und ungekränkt zu lassen. Widrigenfalls hat der Übertreter zu gewärtigen, dass er sogleich mit harter Gefängnis-, auch dem Befinden nach, öffentlicher Karren-Schieben-Strafe beleget werden soll.“ (38)
Die Obrigkeit in Jever hatte 1782 eine neue Rolle angenommen, die des Beschützers der Juden.
5) Die Errichtung der Synagoge 1802
Die Zahl der Juden in Jever wuchs bis zur Jahrhundertwende deutlich. Es war jetzt auch zumindest für den Schächter und den jüdischen Schullehrer möglich, sich ohne eigentlichen Schutz mit Familie in Jever niederzulassen. Vermutlich lebten im Jahre 1800 an die siebzig Menschen jüdischen Glaubens in der Stadt. Für das Jahr 1809 sind 95 bei einer Einwohnerzahl von 3.004 Personen nachgewiesen. Die Bürgerlisten der Stadt Jever von 1811 führen 36 jüdische Einwohner mit eigenem Einkommen auf (39), und sicher benutzten auch die in ihrer Anzahl nur wenigen Landjuden der Umgebung die Synagoge. Diese Entwicklung ließ es der jüdischen Gemeinde geboten erscheinen, die Betstube in der Lohne aufzugeben und eine eigene Synagoge zu erbauen. Dieser Bau markiert einen weiteren Schritt auf dem langen Weg der Anerkennung.
Im Jahre 1800 erwarb die Gemeinde von einer Witwe namens Büchner ein bisher unbebautes Grundstück an der Wasserpfortstraße. Die Landesadministratorin Friederike Auguste Sophie, Witwe des letzten Zerbster Fürsten, die für den Zarenthron die inzwischen russisch gewordene Herrschaft Jever verwaltete, genehmigte am 16. August 1800 den Neubau. Der Stadtrat Jevers teilte zugleich den Antragstellern, dem Schutzjuden Moses Louis, einem Pferdearzt, und den beiden anderen Gemeindevorstehern Levi Heinemann und Levi Moses mit, dass die bürgerlichen Lasten und Abgaben von dem Baugrundstück auch künftig an die Stadtkasse zu zahlen seien. Der Neubau stellte für die Gemeinde einen finanziellen Kraftakt dar. Zur Finanzierung erhielt die Armenkasse der jüdischen Gemeinde von der Landesverwalterin ein Darlehen von 1.000 Reichstalern, das in jährlichen Raten von 100 Reichstalern abzutragen war. (40) Gleichzeitig nahm die Gemeinde eine Hypothek auf, die sie noch in den 1830er Jahren drückte, bis schließlich der Kaufmann Levy Koopmann Samuels durch die Schenkung von 500 Reichstalern und andere Gemeindemitglieder durch kleinere Beträge die Schuld tilgten. (41)
Im Zuge der Bauarbeiten lud der Rat der Stadt die jüdischen Vorsteher vor, da sie angeblich die Ummauerung des Grundstücks zu hoch und zu weit heraus gebaut hätten. Man einigte sich darauf, dass die Mauer so bleiben könne, jedoch nicht weiter erhöht werden dürfe. Auch solle das Gebäude selbst nicht so weit an die Gosse herangerückt werden. (42) Von dem 1800 abgebrochenen Bauwerk haben sich keine Abbildungen erhalten, sie dürfte den Stil einer Landsynagoge besessen haben. Das Kataster und eine Karte von 1824 weisen die erste Synagoge Jevers als kleines, von der Front der anderen Häuser der Wasserpfortstraße zurückgesetztes Gebäude von ca. acht mal fünf Metern mit der längeren Seite zur Straße hin aus. In Richtung Süden (Mönchwarf) befand sich ein kleiner Anbau, vermutlich die Toilette.
Am 15. Januar 1802 konnte die neue Synagoge endlich feierlich eingeweiht werden. Die dabei gehaltenen Reden und Gesänge wurden später in deutscher Sprache gedruckt herausgegeben. Leider hat sich die Publikation in öffentlichem Besitz nicht erhalten. Für die Zusammenstellung war Lazarus Hirsch aus Braunschweig verantwortlich, der als Hauslehrer beim wohlhabenden Schutzjuden Koopmann Samuels tätig war und als Privatlehrer seine in Frankreich erworbenen Sprachkenntnisse allen Bürgern per Annonce anbot (43). Der Grundstein wurde zusammen mit dem Grundstein der 1880 auf demselben Grundstück nach Abriss der alten errichteten neuen Synagoge in die Fassade eingefügt. Diese Synagoge zerstörten örtliche NS-Aktivisten während des Novemberpogroms 1938. Beide Grundsteine befinden sich seit 1947 auf dem jüdischen Friedhof als Bestandteil eines Mahnmals.
Ein Schlaglicht auf die Situation der jeverschen Juden bei der Eröffnung ihrer ersten eigens erbauten Synagoge wirft ein in den „Jeverschen wöchentlichen Anzeigen und Nachrichten“ vom 11. Januar 1802 dokumentierter Vorgang. „Da dieser Tage in der Gegend der Juden Kirche ein starker Canonenschlag gefunden worden, welcher von übelgesinnten Personen hingeleget worden; so wird hierdurch bekannt gemacht, dass derjenige welcher den oder die Täter angeben wird, so dass sie zur Verantwortung gezogen werden können, eine Belohnung von zehn Reichsthaler unter Verschweigung seines Namens haben soll.“ Es war damals in Jever leicht für jedermann, sich in den Besitz von Sprengpulver zu setzen. (44) Auf eindringliche Vorstellung der Vorsteher der jüdischen Gemeinde erließ die Regierung in Jever am 8. Januar 1802 sofort, „dass niemand bey Vermeidung unverzüglich zu verhängender Gefängnissstrafe, auch nach Befinden zu erwartender öffentlicher Züchtigung, sich gelüsten lasse, die Juden-Gemeinde in ihrer erlaubten Feyerlichkeit auf irgend einerley Weise zu stören, oder ihrem Vornehmen auf irgend eine Art etwas in den Weg zu legen.“ Gleichzeitig wies die „Kaiserl. Regierung hieselbst“ darauf hin, dass die Synagoge mit „Landesherrlicher gnädigster Erlaubniss“ erbaut worden sei. (45)
Die Zeiten hatten sich seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts tatsächlich geändert. Nicht nur die religiösen Bräuche der Juden wurden jetzt öffentlich akzeptiert und z. B. Märkte wegen des Laubhüttenfestes verlegt, sondern der Staat war vom Kurzhalter der Juden zu ihrem Beschützer geworden. Seit dem Pogrom von 1782 sah sich die Obrigkeit in Jever genötigt, Auswüchse des Antisemitismus von unten zu zügeln – ein Modell, das vom Prinzip her die nächsten 150 Jahre galt, bis sich dann der nationalsozialistische Staat und große Teile der Gesellschaft verbündeten, um die Juden zu vertreiben und zu ermorden. Scheiterte am Anfang der Synagoge ein Sprengstoffanschlag, der staatlicherseits verfolgt wurde, explodierte an ihrem Ende das Benzin des NSDAP-Ortsgruppenleiters. Fritz Husmann folgte nach eigener Aussage „nur einem Befehl“ von oben, aber aus freien Stücken schlossen sich ihm jeversche Bürger an, die Synagoge zu zerstören, die Juden zu demütigen und auszurauben. Als die Alliierten 1945 Friesland vom Nationalsozialismus befreiten und wieder Rechtsverhältnisse garantierten, konnten sie nur noch die Auslöschung der keine 250 Jahre existierenden jüdischen Gemeinde zu Jever feststellen.
Literatur und Quellen
- Beiträge zur Spezialgeschichte des Jeverlandes.- Jever 1853 (Sammlung Hochf. Anhalt-Zerbstischer Rescripte an das Jeversche Consistorium 1719 bis 1767)
- Braunsdorf, Magister: Gesammelte Nachrichten zur geographischen Beschreibung der Herrschaft Jever. Hg. v. Friedrich-Wilhelm Riemann.- Jever 1896
- Janßen, Georg: Von den ersten jeverschen Juden.- Jever ca. 1940, Ms., Schlossarchiv Jever, Ar VI Nr. 56a
- Meiners, Werner: Nordwestdeutsche Juden zischen Umbruch und Beharrung: Judenpolitik und jüdisches Leben im Oldenburger Land bis 1827.- Hannover 2001 (Meiners I)
- Meiners, Werner (Hg.): Konversionen von Juden zum Christentum in Nordwestdeutschland: Vorträge des Arbeitskreises Geschichte der Juden in der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen.- Hannover 2009 (Meiners II)
- Murra-Regner, Georg: „Wir haben also unseren Ruin vor Augen“. Der Pogrom in Neustadtgödens vom 5. Mai 1782.- Dornum 2014 [im Wesentlichen Transkriptionen von Dokumenten]
- Peters, Hartmut: Jever.- In: Die Synagogen des Oldenburger Landes. Hrsg. v. Enno Meyer.- Oldenburg 1988, S. 41 – 121 [textidentisch mit ders.: Die „Reichskristallnacht“ in Jever und die Geschichte der jeverschen Synagogen.- Jever 1992]
- Riemann, Friedrich Wilhelm: Geschichte des Jeverlands. Bd. 3.- Jever 1931
- Schaer, Friedrich Wilhelm: Der Gödenser Pogrom vom 5. Mai 1782: Vom Verhältnis von Juden und Christen in Ostfriesland im 18. Jahrhundert.- In: Ostfriesland 1974, H. 3, S. 20 ff. (Schaer I)
- Schaer, Friedrich Wilhelm: Die Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst vom späten 16. Jahrhundert bis zum Ende der Dänenzeit.- In: Gesichte des Landes Oldenburg: ein Handbuch.- Oldenburg 1987 (Schaer II)
- Trepp, Leo: Die Oldenburger Judenschaft.- Oldenburg 1973
- Bibliothek des Mariengymnasiums, Handschriftensammlung (BMG)
- Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg (NLO)
- Schlossarchiv Jever (SAJ)
Endnoten
- Die handschriftlichen Quellen wurden in Schreibung, Zeichensetzung und Satzbau heutigen Maßstäben angenähert. Schutzbrief Meyer Levi vom 25.7.1698, BMG Hs. 88, Nr. 1
- BMG Hs. 88, Nr. 2
- Bei Legung des Crildumersiels im Jahre 1694 tritt ein Meyer Levi als Geldverleiher in Erscheinung. Dies ist offenbar der erste jeversche Schutzjude; vgl. Janßen
- nach Riemann 213
- NLO Best. 90, Aa Tit. 5 (Mannzahlregister 1720); vgl. Meiners I 79, FN 213
- vgl. Meiners I 60
- Riemann 213
- vgl. hierzu ausführlich Meiners I 484 ff.
- NLO Best. 95 Ab (Regierungsprotokolle)
- NLO Best. 97, Nr. 424a, Bl. 6, Publikationsbefehl vom 1.4.1726
- Riemann 212; vgl. auch Schaer I
- Beiträge, Nr. 17
- NLO Best. 97, Nr. 424a, Bl. 9
- ebd., Bl. 11 – 14
- vgl. Schaer II 211
- NLO Best. 97, Nr. 424a, Bl. 22
- ebd., Bl. 19
- ebd. , Bl. 20
- ebd., Bl. 24
- NLO Best. 97, Nr.424b (4; 76; 111); zit. N. Meiners I 345
- Meiners I 345
- NLO Best. 90-5, Nr. 224 (F65); zit .n. Meiners I 81
- NLO Best. 90-5, Nr. 224a (F78); zit .n. Meiners I 81
- vgl. Meiners I 81
- NLO Best. 97, Nr. 424a, Bl. 26
- nach Braunsdorf 48 u. 55; Janßen 1; Jeversche Wöchentliche Anzeigen und Nachrichten vom 6.3.1798
- Riemann 328 ff.
- Beisetzung Johann Heinrich Ferdinand von Fumetti, 8.2.1787, Kirchenbuch Jever, Ev. Gemeindearchiv Jever
- NLO Best. 262-4, Nr. 4523 (22a); Bekanntmachung in Zerbst am 17.4.1776; zit. n. Meiners I 118
- vgl. Meiners 118 f.
- BMG Hs. 88, Nr. 10
- wie FN 26
- BMG Hs. 88, Nr. 5
- Meiners I 504 – 523 bietet die beste Studie zu den Fakten und Hintergründen der Ausschreitungen in Neustadtgödens, Jever und Kniphausersiel von Mai 1782
- Schaer I 22
- Janßen 1
- Meiners 508 f.
- BMG Hs. 88, Nr. 4
- BMG Hs. 576 (Nachlass Diedrich Ulrich Heinemeyer) resp. SAJ Bürgerlisten der Stadt Jever von 1811
- NLO Best. 262-4, Nr. 4607
- Trepp 179
- NLO Best. 97, Nr. 424c, Bl. 21r
- Braunsdorf 48; Jeversche Wöchentliche Anzeigen und Nachrichten vom 11.1.1802
- vgl. die Berichterstattung zum „Sprengpulverproblem“ dieser Zeit, Jeversche Wöchentliche Anzeigen und Nachrichten
- Jeversche Wöchentliche Anzeigen und Nachrichten vom 11.1.1802
Der Artikel geht zurück auf den Anfangsteil eines Aufsatzes des Autors in: Die Synagogen des Oldenburger Landes. Hrsg. v. Enno Meyer.- Oldenburg 1988, S. 41 – 121, hier die S. 42 – 53 (textidentisch mit ders.: Die „Reichskristallnacht“ in Jever und die Geschichte der jeverschen Synagogen.- Jever 1992, S . 4 – 15 ). Der Artikel wurde 2017 durch Hinzuziehung neuerer Literatur erweitert. Mein herzlicher Dank gilt Wiard Hinrichs, der 1987 einen Teil der handschriftlichen Quellen bearbeitete und einen Entwurf für die die ersten Kapitel zur Verfügung stellte.
Hartmut Peters, im April 2017