Sande: Das Zwangsarbeiter- und DP-Lager im Ortsteil Neufeld (1940-1948)

von Holger Frerichs, Varel

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. „Zwangsarbeiterlager“ (Sommer 1940 bis Mai 1945) 
  3. Lager für osteuropäische „Displaced Persons“ (Mai 1945 bis Herbst 1948)
  4. „Nachgeschichte“ und „Erinnerungsort“

 

1. Einleitung 

Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten und der folgenden massiven Aufrüstungspolitik gewann auch der im Vorfeld der Kriegsmarinestadt Wilhelmshaven gelegene Ort Sande an Bedeutung. Die heutige eigenständige Gemeinde Sande (mit den Ortsteilen Sande, Sanderbusch, Mariensiel, Cäciliengroden und seit 1972 auch Gödens/Neustadtgödens/Dykhausen) war damals noch Teil der friesländischen Großgemeinde Oestringen im Landkreis Friesland. Sande wurde von den Planungsstäben des NS-Regimes bei der Projektierung und Errichtung von Dienststellen und Einrichtungen der 1935 aufgestellten Wehrmacht, vor allem der Kriegsmarine, massiv einbezogen. Herausragendes Beispiel ist das in Sanderbusch gebaute Marine-Lazarett – samt Marine-Sanitätsschule -, damals der größte Lazarett-Neubau dieser Art in Deutschland. Hinzu kamen Industrieanlagen mit für die Rüstung bedeutsamen Firmen wie Norddeutscher Eisenbau oder die Gießerei Sande; bedeutsam in diesem Zusammenhang waren auch die Funktion des Bahnhofs Sande und der Ausbau der damaligen Reichsstraßen 69 und 210 als wichtige Elemente der Verkehrsinfrastruktur zur Versorgung von Wilhelmshaven. Bei den Planungen zur Errichtung von Wohnstätten für die vielen Arbeitskräfte, die beim weiteren Ausbau der Stadt Wilhelmshaven, auf der Kriegsmarinewerft oder in den Rüstungsbetrieben benötigt wurden, spielte Sande eine wichtige Rolle.

In diesen historischen Kontext gehört die Errichtung eines aus massiven Bauten bestehenden Lagerkomplexes im Ortsteil Sande-Neufeld II. Im Sprachgebrauch der bei Planung und Bau federführenden Kriegsmarinewerft Wilhelmshaven erhielt das Lager die Bezeichnung „Arbeiterunterkünfte Salzengroden“. In verschiedenen Quellen werden auch abweichende Bezeichnungen verwendet (z. B. „Gemeinschaftslager Sande-Salzengroden“, „Gemeinschaftslager Sande-Neufeld“).

2. „Zwangsarbeiterlager“ (Sommer 1940 bis Mai 1945) 

Kurz vor dem Hitler-Besuch in Wilhelmshaven am 1. April 1939 kam es zu hektischen Besprechungen über den geplanten Ausbau der Stadt Wilhelmshaven. Die NS-Landesregierung in Oldenburg verfügte, dass nun auch das Gebiet um Sande, an dessen Bebauung erst für eine spätere Zeit gedacht war, einbezogen wurde. Das Hafenbauressort der Kriegsmarinewerft Wilhelmshaven zog das Projekt Sande-Neufeld an sich, die ersten konkreten Planungen und Vorbereitungen begannen im März 1939. Besitzer des für die Errichtung des Lagers vorgesehenen Geländes waren die Familien Abels und Daun, zum Zwangsverkauf getriebener Vorbesitzer eines Teilbereiches war der jüdische Bürger Robert de Taube, Horster Grashaus.

Das Wohnlager diente nach Fertigstellung im Sommer 1940 zunächst zur Unterbringung von zivilen ausländischen Zwangsarbeitern. Dort mussten Menschen aus den besetzten westeuropäischen Ländern (Niederlande, Belgien und Frankreich u.a.), aber auch aus Polen (sie trugen das „P“ auf ihrer Kleidung) und ab Frühjahr 1942 aus der ehemaligen Sowjetunion („Ostarbeiter“ mit „OST“-Kennzeichen) ihren tristen Alltag verbringen. Auch Arbeitskräfte aus dem zunächst verbündeten Mussolini-Italien werden erwähnt.

Die in der Arbeit von Dr. Ingo Sommer (siehe Literaturhinweise) sowie weiteren Darstellungen gelegentlich vermuteten ausländischen Kriegsgefangenen gab es in Sande-Neufeld nicht. Für deren Arbeitskommandos war allein die Wehrmacht zuständig. Kriegsgefangene waren getrennt von zivilen Arbeitskräften in besonders gesicherten Lagern unterzubringen (z. B. im Gebiet Sande das Lager Sander Mühle). Auch an den Arbeitsstellen waren sie streng von den zivilen ausländischen Arbeitskräften, insbesondere ihren Landsleuten, zu trennen.

„eine kleine Stadt für sich…“

Sande-Neufeld war wegen seiner Größe eine kleine Stadt für sich. Der letztlich zur Ausführung kommende Bebauungsplan für Sande-Neudeich II stammte von Karl Tuschscherer, die Grundrisse der Gebäude vom Architekten Fritz Hilgenstock, beide in Diensten des Bauressorts der Kriegsmarinewerft in Wilhelmshaven. Der Bebauungsplan sah einen 350 Meter langen zentralen trapezförmigen Platz vor, um den sich symmetrisch die „Blöcke“ gruppierten. Als „Blöcke“ bezeichnete man die sechs Gemeinschaftshäuser, jeweils umgeben von drei bis vier je 60 Meter langen zweigeschossigen Wohnzeilen. Der Platz sollte im Wesentlichen zur Befehlsausgabe an die dort untergebrachten Arbeitskräfte dienen.

Die Lagerstadt wies einen Haupteingang mit „Wache“ auf. Sie erhielt eine Post, eine Kläranlage und Umspannstation, eine Heizanlage, Bunker, Krankenrevier, Wohnungen für die Verwalter sowie einige kleine Läden. Ansonsten fehlten in Sande-Neufeld jegliche Einrichtungen, die ansonsten im Dritten Reich solcherlei „Siedlungen“ kennzeichneten: Es gab keinerlei Grünanlagen oder Gärten, keine Schulen oder gar „Sportanlagen“ und auch keine Verkehrsanbindungen. Die Arbeitskräfte wurden später mit Bussen der Werft transportiert, viele mussten zu Fuß zur etwa vier Kilometer entfernten Westwerft bzw. zu den anderen Arbeitsstätten gehen. Es wurde deutlich, dass hier nicht für „Volksgenossen“ geplant und gebaut wurde, sondern Massenunterkünfte für billige Arbeitskräfte entstanden.

Auch die Grundrisse der Gebäude wiesen auf die Zweckbestimmung des Lagers hin: Hilgenstock’s Entwurf sah 24 Wohngebäude vor. Diese wiesen jeweils, verteilt auf zwei Geschosse, 40 „Zimmer“ auf, die von 60 Meter langen und 1,20 Meter breiten Fluren abgingen. Die etwa 14 bis 18 qm großen „Stuben“ wurden später mit jeweils sechs bis acht ausländischen Arbeitskräften belegt. In den nicht ausgebauten Dachböden in Neufeld gab es langgezogene „Waschgelegenheiten“ für die Bewohner einer Wohnzeile. Sowohl der „Wilhelmshavener Kurier“wie auch die Werkszeitung der Kriegsmarinewerft – „Der Hammer“ – berichteten im Juli 1940 vom Richtfest des vierten der sechs „Blöcke“ von Sande-Neufeld. Der Wilhelmshavener Hafenbaudirektor Georg Frede machte bei seiner Richtfestrede am 11. Juli 1940 deutlich, warum es bei dem Wohnlager ging. Es war keine „Werkssiedlung“, niemand sollte dort heimisch werden. Frede wies daraufhin, dass „trotz aller Schwierigkeiten“ das Bauvorhaben Neufeld „in kürzester Zeit“ von „13 Firmen mit etwa 300 Arbeitern“ hochgemauert worden war.

Hauptbauunternehmer war die vor allem in der Region tätige Firma Herdejürgen und Harmsen, ein 1905 gegründetes und noch heute bestehendes Familienunternehmen mit Sitz in Nordenham. Es wird in verschiedenen Abhandlungen berichtet, dass insgesamt knapp 300 Eisenbahnwaggons mit Baumaterial für Neufeld benötigt worden seien, die Angaben über die Gesamtkosten des Projektes schwanken zwischen 9 und 15 Millionen Reichsmark.

 

Planzeichnung der „Arbeiterunterkünfte Salzengroden“ von Rothe, 4. Juli 1940. Quelle: Stadtarchiv Wilhelmshaven, Bestand 2000-35, Sammlung Dr. Ingo Sommer.
Foto aus der Entstehungsphase des Lagers Sande-Neufeld. Quelle: Stadtarchiv Wilhelmshaven, Bestand 2000-35, Sammlung Dr. Ingo Sommer.

Belegungszahl

Die Unterbringung der ausländischen Arbeiter in den „Blöcken“ erfolgte getrennt nach Nationalitäten. Die Kriegsmarinewerft hatte als Gesamtzahl der Bewohner des Lagers Sande-Neufeld ursprünglich eine Zahl von 3.600 Mann genannt, die Belegung vor allem ab 1943 muss aber bedeutend höher gewesen sein. Genauere Erkenntnisse, wie viele Lagerbewohner tatsächlich dort in den einzelnen Zeitabschnitten leben mussten, sind wegen der schwierigen und disparaten Quellenlage jedoch schwierig. Nach bisher vorliegenden Angaben scheint die häufig genannte Zahl einer „Höchstbelegung“ mit mindestens 4.000, vielleicht bis hin zu 6.000 ausländischen Zivilarbeitern realistisch zu sein. Es kann somit zumeist von völlig überbelegten Massenquartieren ausgegangen werden, denen es an jeglichem – und sei es auch nur bescheidenem – Wohn- oder Sanitärkomfort fehlte.

Allgemeine Lebensumstände

Sicher belegt ist, dass das Lager Sande-Neufeld zu Beginn nicht umzäunt war. Ob dies im weiteren Verlauf des Krieges doch noch der Fall war, nachdem dort ab Frühjahr 1942 auch zivile Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion („Ostarbeiter“) untergebracht wurden, für die zunächst umzäunte Unterkünfte vorgeschrieben waren, ist wahrscheinlich, konnte bisher aber nicht eindeutig geklärt werden. Nicht nur an ihrer Arbeitsstelle, auch in der knapp bemessenen Freizeit wurden die ausländischen Arbeiter oftmals drangsaliert und gemaßregelt; die deutsche Lagerverwaltung, Ortspolizeibehörde und bei „Auffälligkeiten“ in letzter Instanz die Geheime Staatspolizei überwachten und disziplinierten die dort lebenden Menschen.

Dabei gab es im Sinne der NS-Rassenideologie durchaus Abstufungen und Unterschiede in der Behandlung: Es waren vor allem die verschleppten Männer und Frauen aus Osteuropa, die in der NS-Propaganda und in deren rassistischer „Rangordnung“ als „minderwertige Slawen und Ostvölker“ galten, die länger und härter arbeiten mussten, weniger Lohn erhielten und bei Übertretung von „Verhaltensmaßregeln“ die schärfsten Strafen zu erwarten hatten. Dies galt vor allem bei „Widersetzlichkeit“ gegen den Arbeitgeber, „deutschfeindliche Propaganda“ und ähnliche Delikte, bei denen die NS-Behörden eine „sicherheitspolizeiliche Gefahr“ für das Regime witterten.

Freundschaftliche Kontakte der ausländischen Zwangsarbeiter zur deutschen Bevölkerung wurden vom NS-Regime argwöhnisch beäugt und sollten möglichst unterbleiben, was allerdings an den Arbeitsstellen nicht immer gelang. Bei Liebesbeziehungen zwischen polnischen Männern oder „Ostarbeitern“ (Männer aus der Sowjetunion) und deutschen Frauen sahen die öffentlich verkündeten „Verhaltensmaßregeln“ für die Männer in letzter Konsequenz die Todesstrafe („Sonderbehandlung“) vor, den deutschen Frauen drohte die öffentliche Zurschaustellung oder die Einweisung in ein Konzentrationslager.

Verfolgung der ausländischen Zwangsarbeiter in Sande-Neufeld durch die Gestapo

Im Niedersächsischen Landesarchiv in Oldenburg sind eine Vielzahl von sogenannten „Tagesmeldungen“ der Geheimen Staatspolizei in Wilhelmshaven überliefert, in denen über die Verhaftung oder Maßregelung von ausländischen Personen berichtet wird, die ihren Aufenthaltsort im Lager Sande-Neufeld hatten. Eine systematische Auswertung dieser Meldungen steht noch aus.

An dieser Stelle sollen beispielhaft Berichte genannt werden, die zwei niederländische bzw. einen französischen Zwangsarbeiter betrafen:

In der Tagesmeldung Nr. 3 vom Dezember 1942 berichtete die Staatspolizeistelle Wilhelmshaven nach Berlin über den „seit dem 10.10.42 wegen kommunistischer Umtriebe im hiesigen Polizeigefängnis einsitzende[n] französische[n] Zivilarbeiter (…), wohnhaft gewesen im Gemeinschaftslager I Sande“. Er hatte, so die Gestapo, „(…) während seiner Inhaftierung die ihm zugewiesenen Arbeiten verweigert und Fluchtversuche unternommen, (…). Auf Grund seines böswilligen und gefährlichen Verhaltens sollte H. am 8.12.42 in Einzelhaft überführt werden. Bei der Durchführung dieser Maßnahme sprang er den Gefängnisbeamten nach Öffnen der Zellentür an und versuchte, ihn mit einem Schemelbein niederzuschlagen. Der Beamte vermochte dem Schlage auszuweichen und konnte von der Dienstpistole Gebrauch machen. Der Schuss traf Hudelot in den Unterleib und verletzte ihn schwer. Er wurde in das Städtische Krankenhaus Wilhelmshaven eingeliefert.“1

Der Tagesmeldung Nr. 1 vom März 1943 ist zum Schicksal von zwei Niederländern aus der Provinz Groningen zu entnehmen: „Von der Staatspolizeistelle Wilhelmshaven wurden vorläufig festgenommen: (…) b) wegen Verbrechens nach § 4 der Volksschädlingsverordnung der holländische Staatsangehörige Wilhelm Holt, geb. 7.2.15 in Sche[e]mda, wohnh. gew. in Sande, Gemeinschaftslager, der holländische Staatsangehörige Douwe Walda, geb. 15.5. in Leens, wohnh. gew. in Sande, Gemeinschaftslager 3. (…).“ In der Tagesmeldung Nr. 4 vom März 1943 wird über die Verurteilung berichtet: „In der am 16.3.43 stattgefundenen Sitzung des Sondergerichtes Oldenburg in Oldenburg wurden die holländischen St. A. 1.) Arbeiter Wilhelm Holt, geb. 7.2.15 Sche[e]mda, wohnhaft gewesen in Gemeinschaftslager Sande 6 und 2.) Arbeiter Douwe Walda, geb. 7.2.15 in Leens, wohnhaft gewesen im Gemeinschaftslager Sande 3, (siehe meinen Tagesrapport Nr. 1/März 1943) wegen Verbrechen gegen §4 der Volksschädlingsverordnung zu je 2 Jahren Zuchthaus unter Anrechnung der bisher erlittenen Untersuchungshaft verurteilt. Außerdem wurden beiden die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von 2 Jahren aberkannt.“2 Das weitere Schicksal von Douwe Walda erschließt sich aus einer anderen Quelle: „Walda, Douwe Niederländer, wurde am 15. Mai 1918 in Leens bei Groningen geboren. Der Arbeiter wohnte in Leens und war zuletzt als Zwangsarbeiter in Sande bei Wilhelmshaven im Einsatz. Im März 1943 vom Sondergericht Oldenburg nach „Kriegssonderstrafrecht“ zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, wurde Douwe Walda am 21. April 1943 zur Strafverbüßung vom Gefängnis Oldenburg in das Zuchthaus Hameln gebracht. Nach Ablauf seiner Strafzeit am 16. Februar 1945 wurde er der Gestapo übergeben, die ihn über ihr Gefängnis in Ahlem oder aber direkt in das „Arbeitserziehungslager“ Lahde/Weser, das KZ der Gestapo Hannover, verschleppte. Douwe Walda kam am 2. April, zu Beginn des Todesmarsches von Lahde ins Gestapo-Gefängnis Hannover-Ahlem, ums Leben; dieser Todeszeitpunkt spricht dafür, dass das Wachpersonal Walda als einen von vermutlich 27 nicht marschfähigen Häftlingen kurzerhand exekutierte. Douwe Walda wurde auf dem Gelände des heutigen Ehrenfriedhofs Lahde-Bierde bestattet.“3

Lebensmittelversorgung und medizinische Betreuung

Die Arbeitskräfte aus Holland und anderen westeuropäischen Nationen erhielten bis Ende des Krieges – zumindest auf dem Papier – ähnliche Lebensmittelrationen wie die deutschen Arbeiter, die Osteuropäer mussten sich mit einer schlechteren Versorgung abfinden.

Die medizinische Betreuung der Lagerbewohner lag in der Verantwortung des Oberarztes der Kriegsmarinewerft. Nach dessen Bericht wurde ab 1. Mai 1940 im Lager Sande-Neufeld eigenes Sanitätspersonal stationiert und ein Lagerarzt dorthin abkommandiert. Es gab im Lager Neufeld eine Art „Krankenrevier“ (Krankenstation). Im Mittelpunkt der medizinischen Bemühungen, soweit dies spartanische Ausstattung und „Behandlungsrichtlinien“ vorgaben, dürfte dabei allerdings weniger die Gesundheitsvorsorge bzw. der Gesundheitsschutz der vielen zwangsverpflichteten ausländischen Arbeitskräfte gestanden haben. Es ging darum, die Anzahl „Arbeitsunfähiger“ bereits bei einer Erstdiagnose möglichst gering zu halten bzw. die Erkrankten so rasch wie möglich wieder dem Arbeitsplatz zuzuführen, um ihre Arbeitskraft für die deutsche Kriegswirtschaft maximal auszunutzen. Im Geschäftsverteilungsplan des Werft-Oberarztes in Wilhelmshaven für 1942 wird als „Lagerarzt für Krankenversorgung im Lager Sande“ der Marineoberstabsarzt Dr. Jauerneck genannt.

Sterbefälle und Bestattungen

Die im Lager Sande-Neufeld Verstorbenen wurden auf dem „Ausländergräberfeld“ des Friedhofs Sande bestattet. Auch nach ihrem Tod gab es bei der Bestattung eine von rassistischen Kriterien geprägte unterschiedliche Verfahrensweise: Die Beerdigung von „Westarbeitern“ unterschied sich nicht wesentlich von der reichsdeutscher Staatsbürger, die Bestattung von „Ostarbeitern“ war nach entsprechenden Verfügungen der Geheimen Staatspolizei lediglich als „gesundheitspolizeiliche Maßnahme“ zu betrachten. Besondere Bestattungszeremonien sollten unterbleiben.

1941: Pläne für ein „Lagerbordell“

Offenbar gab es seitens deutscher Stellen Überlegungen, angesichts der Größe des Lagers und der vielen dort untergebrachten ledigen jungen Männer eine Art eigenes „Lagerbordell“ einzurichten. Wie aus anderen Orten bekannt, hätten dort junge polnische oder russische Mädchen und Frauen ihren Landsleuten zu Diensten sein müssen, um aus Sicht der NS-Strategen die „Gefahr“ unerwünschter sexueller Kontakte der Ausländer zu deutschen Frauen zu minimieren. Am 2. April 1941 wandte sich der Kreisleiter der NSDAP in Friesland, Kaufmann Hans Flügel aus Varel, in dieser Angelegenheit an den Landrat in Jever: „Der Führer hat die Errichtung von Bordellen für ausländische Arbeiter angeordnet. In unserem Kreis besteht die Notwendigkeit, in Sande, wo etwa 4000 zum größten Teil fremdländische Arbeiter eingesetzt sind, einige Bordelle zu errichten. (…). Auch die DAF [Deutsche Arbeitsfront; H. F.] ist der Auffassung, daß in Sande Bordelle errichtet werden müssen, da mit einer Erweiterung der Belegschaften in Sande gerechnet werden muß. Ich bitte um Mitteilung, ob diese Frage bereits von Staatswegen an Sie herangetragen ist und welche Maßnahmen von Ihnen dafür in Aussicht genommen werden sollen. Heil Hitler! (gez. Flügel) Kreisleiter.“4 Zu einer praktischen Umsetzung des Vorhabens kam es jedoch, soweit bekannt, nicht.

18. Februar 1943: Ausländische Opfer im Lager Sande-Neufeld nach einem Luftangriff

Bei einem Nachtangriff der britischen Royal Air Force auf Wilhelmshaven am 18. Februar 1943 fielen u.a. drei Sprengbomben im Bereich des Lagers Neufeld. In den Trümmern starben 16 Niederländer und zwei Franzosen. Bestattet wurden auf dem Friedhof in Sande in zwei Einzelgräbern die französischen Zwangsarbeiter Ange-Hyacinthe de Monte, Arbeiter, geboren am 22.9. 1907 in Buis, und Jean Le Bizec, Arbeiter, geboren am 6.10.1921. Die niederländischen Opfer wurden eine Woche nach dem Angriff in einem großen Gemeinschaftsgrab im Feld C des Sander Friedhofs bestattet:

  • Carel Philip Leopold van Rijsoort, Schweißer, geboren am l0.11.1917 in Delft,
  • Gezinus Hogenberg, Maler, geboren am 20.11.1908 in Emmen,
  • Marinus Roozeboom, Arbeiter, geboren am 22.3.1923 in Wageningen,
  • Simon Jacobus Zichterman, Schweißer, geboren am 26.2.1915 im Amt Hardenberg,
  • Karel Johannes de Kok, Monteur, geboren am 29.3.1912 in Rotterdam,
  • Hendrik Cornelis Boelhouwers, Klempner, geboren am 5.11.1923 in Rotterdam,
  • Jacobus Koppejan, Klempner, geboren am 12.4.1917 in Goes,
  • Antonius Gosen Bron, Maschinenarbeiter, geboren am 16.10.1912 in Leerdam,
  • Fokke Bosma, Kraftfahrer, geboren am 19.9.1911 in Baflo,
  • Jan Cornelis Bosman, Werftarbeiter, geboren am 9. 12.1917 in Papendrecht,
  • Jan Schmal, Schlosser, geboren am 11.2.1924 in Rijswijk,
  • Johannes Koppe, Elektriker, geboren am 9.2.1921 in Rotterdam,
  • Franz Verstrepen, Fahrer, geboren am 3.1.1915 in Wybrik (?),
  • Hendrik Cleengut, Tischler, geboren am 29.9.1919 in Hingen,
  • Petrus van der Raay, Maschinist, geboren am 4.1.1893 in Amsterdam,
  • Johann Andries Grashoff, Kupferschmied, geboren am 26.3.1913 in Rotterdam.

Die Chronik der Kirchengemeinde Sande vermerkte, dass nach Kriegsende die noch in Sande verbliebenen Niederländer vor ihrer Rückkehr dem Pfarrer ein Sparkassenbuch zur Instandhaltung der holländischen, aber auch französischen und belgischen Gräber überreichten. Beide Franzosen wurden im Juli 1949 in ihre Heimat überführt, die sterblichen Überreste von fünf Niederländern wurden im November 1951, zwei weitere im November 1958 exhumiert und in die Niederlande überführt. Alle übrigen niederländischen Toten brachte man am 26. März 1953 auf das Niederländische Ehrenfeld des Friedhofes Bremen-Osterholz.

 

Sande-Neufeld nach dem Luftangriff vom 18. Februar 1943. Sammlung Holger Frerichs.

 

 

Postkarte eines niederländischen Arbeiters im Lager Neufeld in die Heimat, Mai 1943. Die Post wurde zensiert, wie der rote Zensurstempel der Wehrmacht zeigt.

Historisch Centrum Overijssel, vestiging Zwolle. Inventarnummer 1230.

1944: Etwa 50 „Russenkinder“ in Sande-Neufeld

Vor allem in der zweiten Hälfte des Krieges lebten viele ausländische Kinder im Lager Sande-Neufeld. Insbesondere aus der UdSSR wurden ab 1943 ganze Familien mit noch minderjährigen Mädchen oder Jungen von deutschen Besatzungsbehörden und der Wehrmacht zum Arbeitseinsatz nach Deutschland verschleppt. Es gab eine insgesamt unbekannte Anzahl von Schwangerschaften und Entbindungen bei polnischen und sowjetischen Zwangsarbeiterinnen, für die jedoch kein „Mutterschutz“ existierte. Die Neugeborenen lebten bei ihren Müttern in den meist völlig unzulänglichen Wohnlagern oder den einzelnen Arbeitsstätten. Andernorts seinerzeit als „Ausländerkinder-Pflegestätten“ bezeichnete und als „Sterbelager“ berüchtigte Einrichtungen gab es in Sande und Umgebung, soweit bisher bekannt, nicht. Genauere Angaben über die Gesamtzahl der in den Gemeinden des Landkreises Friesland registrierten ausländischen Kinder – jedoch leider mit Ausnahme der Gemeinde Oestringen – sind vom September 1944 überliefert, als der Sicherheitsdienst (SD) der SS eine entsprechende Erhebung vornahm. Acht der seinerzeit neun Gemeinden konnten dem Kreisamt genauere Angaben machen, nur die Gemeinde Oestringen führte keine entsprechenden Aufzeichnungen. Die Einzelmeldungen der acht Gemeinden beinhalteten folgende Zahlen: Gemeinde Wangerooge: 6, Gemeinde Minsen: 44, Gemeinde Wangerland: 46, Stadt Jever: 25, Gemeinde Kniphausen: 17, Gemeinde Friesische Wehde: 55, Gemeinde Varel-Land: 36, Stadt Varel: 41. In der Summe waren dies 270 Kinder. Warum der Landrat in seiner Berichterstattung an den SD aus den Einzelmeldungen nur 253 ausländische Kinder errechnete und meldete, ist nicht nachvollziehbar.5 Für die Gemeinde Oestringen und dabei speziell für Sande und das Lager Neufeld muss die Zahl der ausländischen Kinder im Juni 1944 mindestens 46 betragen haben, denn allein diese Zahl an „Russenkindern“ wird auf einem überlieferten „Küchenbericht“ für das Gemeinschaftslager Sande genannt.6 Rechnet man die unbekannte Zahl von Kindern polnischer Eltern hinzu, dürften demnach in Sande Mitte 1944 mehr ausländische Kinder als in jeder anderen friesländischen Gemeinde gelebt haben.

Anfrage SD-Außenstelle Wilhelmshaven an Landrat Friesland, Juli 1944. Quelle: NLA Oldenburg, Bestand 231-3, Nr. 274, o. Pag.

Anfang 1945: Zeitweise Unterbringung niederländischer Gestapo-Häftlinge in Sande-Neufeld

Es ist belegt, dass im Lager Sande-Neufeld gegen Kriegsende vorübergehend auch niederländische Gestapo-Häftlinge untergebracht wurden, die schließlich aber bis zu ihrer Befreiung im Mai 1945 im Lager „Schwarzer Weg“ in Wilhelmshaven eingesperrt wurden. Aus einem Schreiben der Kriegsmarinewerft Wilhelmshaven an Staatspolizeistelle Wilhelmshaven, 16. Februar 1945:

„Da bisher insgesamt 12 Fluchtfälle vorgekommen sind, (…), wurde, wie auch mit dem Leiter der dortigen Dienststelle [Lager Schwarzer Weg, H.F.] besprochen, nunmehr die Kennzeichen [sic! Kennzeichnung, H.F.] der Häftlinge durch Aufpinseln eines ‚H‘ (Häftling) und zwar in gelber Ölfarbe auf die in Ermangelung von Häftlingskleidung zu tragende Zivilkleidung, angeordnet und bereits zum Teil durchgeführt. Aus hygienischen Gründen wurde ferner kurzer Haarschnitt angeordnet. Von den 12 geflüchteten Häftlingen wurden inzwischen durch hiesige ausländische Gewährsmänner im Ausländerlager Sande, wo sie sehr wahrscheinlich Unterstützung bei freien holländischen Arbeitern gefunden hatten, ermittelt und von der Lagerführung [in Sande-Neudeich, H.F.] der Gendarmerie-Station Sande übergeben. Diese Flüchtlinge sind, nachdem sie für kurze Zeit im dortigen Polizeigefägnis eingesessen haben, nunmehr dem Lager Schwarzer Weg überstellt worden.“

Am 23. Februar 1945 berichtete die Staatspolizeistelle Wilhelmshaven an die Staatspolizeistelle Bremen: „Die Unterbringung dieser Häftlinge, wie auch die Einkleidung stieß auf größere Schwierigkeiten, da die OT. [Organisation Todt, H.F.], der die Häftlinge unterstellt sind, weder Lager noch Kleidung besaß. Der erste Transport [Stärke etwa 200 Mann, H.F.] wurde zunächst vorübergehend im Ausländerlager Sande untergebracht. Da das Lager aber für Pol. Häftlinge zu klein und nicht geeignet war, wurde eine Umlegung vorgenommen, und zwar in das ehemalige Kriegsgefangenenlager Schwarzer Weg, Verlängerung des Mühlenweges [in Wilhelmshaven, H.F.].“7

3. Lager für osteuropäische „Displaced Persons“ (Mai 1945 bis Herbst 1948)

Nach Kriegsende bzw. der Befreiung vom NS-Regime Anfang Mai 1945 wurden die noch in Sande-Neufeld oder andernorts lebenden Ausländer als „Displaced Persons“ (DPs) bezeichnet. Die Verwaltung des Lagers und die Betreuung der DPs erfolgte durch Dienststellen der britischen Besatzungsmacht bzw. Hilfsorganisationen wie die UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) und deren Nachfolger IRO (International Refugees Organisation). Die Zahlenangaben für Sande-Neufeld differieren: Nach einer Liste der Wilhelmshavener Schutzpolizei sollen sich noch kurz vor Kriegsende ca. 1200 Personen in Neufeld aufgehalten haben, darunter 343 Niederländer und 162 Belgier. Im Stadtarchiv Wilhelmshaven ist ein Bericht eines Lagerverwalters vom 17. Mai 1945 überliefert, nach dem das Lager mit 3.500 Mann belegt war. Am 24. Mai 1945 waren es 6.000 Mann Belegung, bis zum 29. Mai war die Zahl wieder auf 5.313 gesunken. Über die unterschiedlichen Nationalitäten liegen keine Aufschlüsselungen vor.

„Assembly Center“ für sowjetische Repatrianten (Mai bis August 1945)

Sicher belegt ist aber: Diejenigen Zwangsarbeiter, die aus den westeuropäischen Ländern stammten, traten bereits unmittelbar nach Kriegsende, organisiert oder auf eigene Faust, den Weg in ihre Heimat an. Sande-Neufeld hatte zunächst – neben Bockhorn-Friedrichsfeld (ehemaliger Fliegerhorst) – in der Region Friesland/Wilhelmshaven die Funktion eines Sammellagers (Assembly Center) für die befreiten zivilen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion. Unter Beteiligung sowjetischer Repatriierungsoffiziere erfolgte bis Mitte August 1945 die nahezu vollständige, oftmals aber nicht freiwillige Rückkehr dieser Menschen in ihre Heimat. Es gibt Hinweise, dass auch Angehörige der sogenannten „Georgischen Legion“, die von der niederländischen Insel Texel zunächst nach Wilhelmshaven gebracht wurden, sich zuletzt vor der sogenannten Repatriierung einige Zeit in Neufeld aufhielten. Sie galten als „Kollaborateure“, da sie bis 1945 unter deutschem Oberkommando als eine der sogenannten „Ostlegionen“ der Wehrmacht gedient hatten.

„Polenlager“ (September 1945 bis Oktober 1948)

Ab September 1945 hielten sich in Sande-Neufeld im Wesentlichen nur noch „Displaced Persons“ aus Polen auf, was sich in Verwaltungsakten der Nachkriegszeit in der wiederholt verwendeten Bezeichnung „Polenlager“ widerspiegelt. Polnische Staatsangehörige hatten nach Kriegsende, soweit sie rückkehrwillig waren, lange Zeit nur geringe Chancen gehabt, die Heimfahrt anzutreten. Gründe waren zunächst die vorzugsweise Rückführung der sowjetischen DPs oder auch die Witterungseinflüsse im Winter 1945/46. Zudem gab es viele polnische DPs, die nicht in den neu entstandenen polnischen Staat zurückkehren wollten, da dieser nun im kommunistischen Herrschaftsbereich lag.

Vom 11. September 1946 ist wieder eine genaue Belegungszahl überliefert. Der Landrat in Jever meldete dem Staatsministerium in Oldenburg eine Gesamtzahl von 8.541 „Displaced Persons“ im Kreisgebiet, wovon alleine 3.301 Polen im Lager Sande-Neufeld registriert waren. In den folgenden Monaten variierte die Belegungszahl, sank aber kontinuierlich. Es gab Verlegungen in und aus dem Lager, manche Bewohner emigrierten in Drittstaaten. Bestattungen erfolgten weiterhin auf dem Ausländergräberfeld des Friedhofes in Sande.

Abb.: Bericht über den Zustand des Lagers Neufeld, 17. November 1947 („noch von 2700 Polen bewohnt“). Quelle: Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg, Akz 2012-060 Nr. 222.

Der Landkreis Friesland und die Gemeinde Sande bemühten sich im Hintergrund fortlaufend bei der alliierten Militärregierung, die Gebäude für die deutsche Bevölkerung (Schaffung von Wohnraum, Gewerbeansiedlung) in Beschlag nehmen zu können. Schließlich hatte man Erfolg: Am 14. Oktober 1948 berichtete die „Nordwest-Zeitung“ über den Abzug der letzten 600 polnischen Bewohner aus dem Lager Neufeld, im Januar 1949 erfolgte die offizielle Übergabe an deutsche Stellen.

4. „Nachgeschichte“ und „Erinnerungsort“

Nach Abzug der letzten polnischen DPs und Übergabe der Gebäude wurden die Gebäude von den Kommunalbehörden zur Unterbringung von Flüchtlingen aus dem ehemals deutschen Ostgebieten genutzt. Der Landkreis Friesland und der niedersächsische Verwaltungsbezirk Oldenburg entwickelten danach ein Gewerbekonzept für Sande-Neufeld, in den ehemaligen Gemeinschaftshäusern und den Wohnzeilen entstanden u.a. eine Tuchweberei, ein Betrieb zur Gardinenherstellung, eine chemische Fabrik, ein Sperrholzbetrieb und ein Fahrzeugbaubetrieb. Daneben nutzten verschiedene Gebietskörperschaften, die Gießerei Sande, der Norddeutsche Eisenbau sowie die noch bestehende Reichsbahn die Gebäude als Werkswohnungen.

Der neue Eigentümer, das Bundesvermögensamt, ließ dann bis Mitte der 1950er Jahre einen kompletten Umbau der vormaligen Massenquartiere zu Wohnungen durchführen. Schornsteine wurden eingezogen, Flure abgemauert, neue Bäder eingerichtet und die Dachböden ausgebaut. Insgesamt 304 ein- bis sechsräumige Wohnungen zwischen 30 und 90 qm entstanden.

Am 17. September 1979 verkaufte der Bund das Areal für 4,9 Millionen Deutsche Mark an die bisherigen Mieter. Eine selbstverwaltete Eigentümergemeinschaft organisierte die Grundstücksgeschäfte. Einzig die sechs „Gemeinschaftshäuser“ zeugen heute noch direkt von der nationalsozialistischen Vergangenheit.

Eine umfassende und kritische Aufarbeitung der Entstehungs- und Belegungsgeschichte des Lagers Sande-Neufeld in der NS-Zeit ist bisher eine der vielen Lücken in der Sander Erinnerungskultur. Die nach dem Kriege und dem Ende der NS-Herrschaft von der „Oral History“ oder von „Ortschronisten“ überlieferten Erzählungen sind teils problematisch. Nachkriegserzählungen oder zeitgenössische Presseberichte über „plündernde und mordende Ausländerhorden“ bestimmen oft den Tenor. Darin spiegeln sich nicht selten die noch aus der NS-Zeit übernommenen Propagandabilder oder weiterbestehende antislawischen Ressentiments. Auch die schlichte Verdrängung des vorangegangenen NS-Unrechts spielt eine Rolle. Das gezeichnete Bild entbehrt allerdings oftmals jeglicher sachlichen Grundlage bzw. kann durch archivalische Quellen so nicht bestätigt werden. Es gab zu keinem Zeitpunkt – zumindest bis Kriegsende 1945 – „bevorzugte“ Wohn- und Lebensverhältnisse der ausländischen Bewohner in Sande-Neufeld, ebenso wenig hatten die dort untergebrachten ausländischen Arbeiter eine bessere Lebensmittelversorgung gehabt als die „Einheimischen“. Das blanke Gegenteil trifft zu.

Erst nach der Befreiung vom NS-Regime erhielten die nun als „Displaced Persons“ bezeichneten Lagerbewohner für eine kurze Zeit von den Alliierten höhere Kalorienzuteilungen, vor allem um deren zuvor erlittene jahrelange Entbehrungen auszugleichen. Auch hielten sich in der ersten Phase nach der Befreiung vom NS-Regime manche der zuvor Verschleppten und Drangsalierten auf eigene Faust schadlos an ihren vormaligen Unterdrückern. Dies betraf vor allem die vor ihrer Repatriierung einige Zeit in Neufeld zusammen gezogenen „Russen“, die zuvor als Kriegsgefangene oder „Ostarbeiter“ besonders schlecht behandelt worden waren. Es kam vereinzelt in der Umgebung zu Plünderungen und Diebstählen von Lebensmitteln, Fahrrädern und Wertgegenständen bei Einheimischen, gelegentlich sogar zu gewalttätigen Übergriffen und Racheaktionen. Zudem trug nach Mai 1945 die besondere Situation des weiterbestehenden trostlosen „Lagerlebens“ nicht unerheblich dazu bei, dass manche ausländische Lagerbewohner sicherlich in Sachen „Kleinkriminalität“ (Beteiligung am Schwarzhandel, Diebstahl, Hehlerei usw.) auffällig wurden. Diese Vorkommnisse gab es aber auch in der deutschen Bevölkerung, insbesondere in den vielen ebenfalls desolaten deutschen Flüchtlings- und Vertriebenen-Unterkünften im Kreisgebiet.

In der ortsgeschichtlichen Überlieferung werden insbesondere die Verhältnisse nach Ende der NS-Zeit mit Begriffen wie „Polenplage“ oft maßlos übertrieben. Sie bestimmen teils noch bis in die Gegenwart das Bild über die Zeit der „Fremdarbeiter“ und des großen „Ausländerlagers“ Sande-Neufeld.

Hinweis: Auf Einzelnachweise wurde weitgehend verzichtet, weitere Quellennachweise beim Verfasser.

Copyright: Holger Frerichs, Hoher Weg 1, 26316 Varel. Forschungsstand: 8. Februar 2019.

Literatur:

  • Holger Frerichs: Der Bombenkrieg in Friesland 1939 bis 1945. Eine Dokumentation der Schäden und Opfer im Gebiet des Landkreises Friesland. Jever 1997. Zum Luftangriff 18.2.1943 und Sande-Neufeld siehe S. 174-181.
  • Ders.: Luftangriff mit schrecklichen Folgen. Vor 65 Jahren: 21 Einheimische und Zwangsarbeiter starben in Sande. In: „Friesische Heimat“ Nr. 378, Beilage zum „Jeverschen Wochenblatt“ 23.2.2008.
  • Stephan Horschitz (Schlossmuseum Jever): Zuwanderung in Sande – die zentrale Rolle von Neufeld II. In: Historien-Kalender auf das Jahr 2017, Jever 2017, S. 48-54.
  • Ulrich Räcker-Wellnitz: „Das Lager ist wichtiger als der Lohn!“ Arbeiterunterkünfte in Wilhelmshaven 1933 bis 1945. Wilhelmshaven 2010. Zu Sande-Neufeld (Salzengroden) siehe S. 87-89, 134.
  • Ingo Sommer: Die Stadt der 500000. NS-Stadtplanung und Architektur in Wilhelmshaven. Braunschweig/ Wiesbaden 1993. Zu Sande-Neufeld siehe S. 110-113, S. 249, S. 281.
  • O.V.: „Verschleppt und ausgebeutet – vom Schicksal der NS-Zwangsarbeiter in Sande. Sander Schüler forschten nach den Erkenntnissen über ein dunkles Kapitel in der Ortschronik.“ In: „Heimat am Meer“ Nr. 9/2009, Beilage zur „Wilhelmshavener Zeitung“, 4.5.2002, S. 33-36.

Archivalien (Auswahl):

Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg:

  • Dep 20 FRI Akz. 2012/062, Nr. 221:
  • Titel Planung und Finanzierung der Instandsetzung der Gebäude des ehemaligen Marinelagers Sande-Neufeld 2 (auch: Polenlager Sande) für Wohnzwecke. Enthält u.a.: Aufnahme eines Kommunaldarlehens von 300.000 DM, Überlegungen zur Nutzung der Wohnungen. Laufzeit 1949-1954.
  • Dep 20 FRI Akz. 2012/062, Nr. 222:
  • Titel Planung von Nutzung und Umbau der Gebäude des ehemaligen Marinelagers Sande-Neufeld (auch Polenlager). Enthält u.a.: Überlegung zur Unterbringung von Flüchtlingen, Verpachtung von Räumen an Firmen, Zeitungsartikel. Laufzeit 1947–1954.
  • Rep 400 Best. 136, Nr. 23489:
  • Titel Schreiben über die Nutzung ehemaliger Wehrmachtsanlagen im Bezirk Oldenburg von Firmen und Behörden an das Finanz-, Wirtschaftsministerium in Oldenburg (Preisüberwachungsstelle). Enthält u.a.: Lageplan des ehemaligen Arbeitslager der Marine in Sande-Neufeld (Wilhelmshaven). Laufzeit 1948-1950.
  • Best. 231-3 Nr. 388:
  • Titel Entlausungsanlagen: Verfügungen, Gesetze, Bestimmungen, Betriebsvorschriften, Maßnahmen zur Verhütung der Übertragung des Fleckfiebers, Bau- u. Einrichtung von Desinfektionsanlagen, Gemeinschaftslager Sande-Salzengroden. Laufzeit 1940–1945.

 

Stadtarchiv Wilhelmshaven:

  • Bestand 2000-35, Sammlung Dr. Ingo Sommer:
  • Kasten 7: „Der Hammer“ – Werkzeitung der Kriegsmarinewerft Wilhelmshaven, Richtfest in Sande;
  • Kasten 8: Fotos und Postkarten Sande-Salzengroden (Unterkunftslager), Sande-Neufeld;
  • Kasten 9: Zeitungsausschnitte bzgl. Neufeld II (Sande).

1  Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg, Bestand 186, Nr. 2886b.

2  Ebd.

3  http://www.geschichte-hameln.de/gedenkbuch/dokumentation/indexgb.php?p=einn&eidi=1900

4  Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg, Bestand 231-3, Nr. 227, o. Pag.

5  Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg, Bestand 231-3, Nr. 274, o. Pag.

6  Das Dokument ist abgebildet bei Ulrich Räcker-Wellnitz: „Das Lager ist wichtiger als der Lohn!“. Arbeiterunterkünfte in Wilhelmshaven 1933 bis 1945. Wilhelmshaven 2010, S. 109.

7  Staatsarchiv Bremen, Bestand 5,4 Nr. 1974/11/19.