Hartmut Peters: Begrüßungsworte am 24. April 1984 im Lehrerzimmer des Mariengymnasiums Jever, 9:30 h

Übersichtsseite: Besuch der in der NS-Zeit vertriebenen Juden in Jever im Jahre 1984: Dokumentation

 

Sehr geehrte, liebe Gäste!

Für die Projektgruppe „Juden besuchen Jever“ will ich Sie jetzt auch, nachdem wir uns gestern ja schon fast alle im Restaurant „Dubrovnik“ kennengelernt haben, hier sozusagen offiziell begrüßen. Es ist jetzt das erste Mal, dass alle Besucher zusammen sind, und ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind, dass Sie den Weg nach Jever eingeschlagen haben. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt, aber uns vom Projekt ist klar, dass Sie keine Touristen sind. Sie setzen mit Ihrem Besuch ein Zeichen, das unübersehbar ist.

1.1 Überreichung des Buches „Verbannte Bürger: Die Juden aus Jever“ am 24. April 1984 durch Werner Beyer im Lehrerzimmer des Mariengymnasiums: v.l. Beate Bernatzki, H. Peters, Hilda und Al Josephs, Rose und Martin Aron; mit Teekanne der stellvertr. Schulleiter Dietrich Rosenboom

Nicht alle sind gekommen, die wir eingeladen haben. In aller Welt leben Flüchtlinge aus Jever, die wegen Alter, Krankheit oder dringender Aufgaben nicht kommen konnten oder die nicht kommen wollen, um sich nicht unnötig schweren Erinnerungen aussetzen. Ich nenne ihre Namen, da wenigstens sie hierher gehören:

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[H. Peters nennt neun Namen]

Weitere Emigranten konnten wir nicht einladen, da sich ihre Spur verloren hat und uns keine Adressen vorlagen. An dieser Stelle möchte ich Herrn Friederichsen von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit danken, dass wir von ihm Adressen, die er zusammengestellt hat, erhalten konnten.

Wir haben das Mariengymnasium als Ort der ersten Zusammenkunft und Begrüßung der Besuchergruppe ehemaliger jüdischer Mitbürger der Marienstadt deshalb gewählt, weil an dieser Schule die Idee der Einladung geboren wurde und weil von hier aus die meiste Arbeit geleistet wurde. Das Lehrerzimmer haben wir deshalb genommen, da der Schüleraufenthaltsraum, der symbolisch angebrachter gewesen wäre, uns etwas ungemütlich erscheint. Übrigens datieren die ersten Anfänge unseres Projektes auf diesen Raum hier, als zum Jahresanfang 1979 während einer Konferenz der Fächer Geschichte und Gemeinschaftskunde die drei Schülervertreter den Lehrern damit in den Ohren lagen, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die sich mit der NS-Vergangenheit Jevers beschäftigen sollte, da solches in Jever noch nie jemand systematisch getan hatte. Die Schüler hatten Erfolg, kaperten sich einige Lehrer und bauten mit ihrer Hilfe ein Archiv auf.

1.2 Roslyn und Walter Groschler sowie John Winston bei der Duchsicht des Buches „Verbannte Bürger“ im Lehrerzimmer des Mariengymnasiums. Die Schule hatte 1933 Walter Groschler trotz bestandener Aufnahmeprüfung abgewiesen.

Ich möchte hier keine Festrede halten, aber gestatten Sie mir folgenden historischen Ausflug. Die Geschichte des über 400jährigen Mariengymnasiums spiegelt in den letzten 100 Jahren ziemlich genau die Geschichte Deutschlands und seiner Einwohner jüdischen Glaubens wider. Vor gut 100 Jahren im Rahmen der Emanzipation begannen jüdische Kinder auch diese weiterführende Schule zu besuchen, viele legten hier ihre Mittle Reife ab, machten ihr Abitur und einige nahmen danach das Studium auf.

1.3 Hanna Angres während des Stadtrundgangs am 24. April 1984. Ihr Bruder Paul de Levie legte 1922 als letzter jüdischer Schüler am Mariengymnasium das Abitur ab und emigrierte 1933.

Erich Mendelsohn z.B., geb. 1887 in Jever, promovierte zum Dr. der Jurisprudenz. Der Bruder von Ihnen, Mrs. Angres, Paul de Levie legte 1922 am Mariengymnasium das Abitur ab, studierte in Frankfurt Jura. Fritz Levy war hier Schüler. Vor der Aula, ein Stockwerk höher, finden Sie eine Tafel mit den Namen von etwa 50 Schülern des

Mariengymnasiums, die im ersten Weltkrieg „für das das deutsche Vaterland“, z.T. als Freiwillige gefallen sind. Darunter Namen wie Siegfried de Levie, Otto Josephs und Max Sternberg. Der erwähnte Dr. Erich Mendelsohn wurde 1933, er war Landgerichtsrat in Oldenburg, mit Berufverbot belegt, Dr. Paul de Levie wurde zur Auswanderung getrieben, und Fritz Levy floh, nachdem man ihn ins KZ wegen „Rassenschande“ gesperrt hatte, nach Shanghai.

Das MG schaffte ab 1933 Bücher an wie „Rassenpflege im völkischen Staat“ oder „Gesundes Volk – gesunde Rasse“, eine Schädelmesslehre usw. an. „Rassenkunde“ stand auf dem Stundenplan. Mr. Gerd Sternberg und Mr. Walter Groschler, Sie wurden 1933 nur weil Sie Juden sind, hier nicht mehr angenommen. Ihr verstorbener Gatte, Frau Isaac, wurde, weil er schon auf der Schule war, noch eine Zeit geduldet.

Das Mariengymnasium war aber schon weit vor 1933 eine Bastion der führenden Nationalsozialisten der Region. Hier wirkten der üble Antisemit Dr. Oskar Hempel und zahlreiche weitere Kollegen von mir, die Ortsgruppenleiter und Kreisleiter der NSDAP waren und sich als Schulungsspezialisten der NSDAP betätigten. Ende des Zweiten Welkriegs war das Mariengymnasium Lazarett, in Jever gab es schon längst keine Juden mehr. Dann begann die Zeit des sogenannten Wiederaufbaus, und die Geschichte der Juden dieser Schule und dieser Stadt wurde verdrängt und totgeschwiegen, wie auch in der gesamten Bundesrepublik erst Ende der 1970er Jahre eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Verfolgung und Ermordung der Juden einsetzte.

Mehr Rede passt jetzt nicht, deshalb höre ich einfach auf und bitte Sie, dem Tee und dem Gespräch zuzusprechen. Nachher möchte ich noch ein paar technische Punkte zum Programm dieser Woche ansprechen.

(nach dem originalen Typoskript der Rede, Sammlung H. Peters)