Übersichtsseite: Besuch der in der NS-Zeit vertriebenen Juden in Jever im Jahre 1984: Dokumentation
Ein Eingang, eine Gruppe Menschen. Immer, wenn etwas gelungen ist, stellt man sich so zusammen, bei Abitur, Hochzeiten, Betriebsfeiern – ein Foto wie Tausende, so scheint es. Hier sind es aber ehemalige, jüdische Einwohner einer Kleinstadt, zusammen mit Ehepartnern und Kindern, im Verein mit Schülern und Lehrern des örtlichen Gymnasiums. Es ist der erste Tag einer Woche, die die vom Hitler-Faschismus vertriebenen Holocaust-Überlebenden besuchsweise an ihrem alten Wohnort verbringen werden. Einem Projekt von acht Schülerinnen und Schülern sowie zwei Lehrern ist gelungen, 53.000 DM zu sammeln und ein technisch kompliziertes, menschlich sehr schwieriges und lokalpolitisch mit starken Berührungsängsten versehenes Vorhaben in die Tat umzusetzen. Ort: Mariengymnasium Jever, Datum 24. April 1984.
Im Lehrerzimmer trafen sich dreizehn ehemalig deutsche „Jeveraner“, heute als Bürger von sechs Ländern in zehn verschiedenen Städten wohnend, häufig zum ersten Mal seit der Vertreibung vor 45 Jahren. Dem bewegenden Ereignis des Wiedersehens und Erinnerns (bei Tee und Gebäck) folgten Begrüßungsreden, die Überreichung des vom Projekt erstellten Buches „Verbannte Bürger. Die Juden aus Jever“, Gespräche. Einer der wenigen in das Projekt involvierten alteingesessenen Bürger der Stadt, dessen Vater ein politischer Freund der Jeveraner Juden war und 1933 Berufverbot als Gymnasiallehrer erhielt, führte die Besucher durch die Stadt. Der Gang geriet zum beredten Gemeinschaftserlebnis, zum Palaver. Ein gemeinsames Essen schloss sich an. Die Besuchswoche mit ihren unterschiedlichen Veranstaltungen und persönlichen Begegnungen hatte einen herzlichen, fast zwanglosen Start genommen.
Ihre Schule hatte das Schüler-Lehrer-Projekt „Juden besuchen Jever“ als Ort der ersten Zusammenkunft ausgewählt, um zu demonstrieren, dass vom Gymnasium – und nicht vom Rathaus – sowohl die Initiative für den Besuch ausging als auch bis zum Abschluss getragen werden musste. Möglicherweise war es für Jever jedoch notwendig, dass hier nicht eine von ein paar Politikern eingesetzte und besoldete Verwaltungsmaschinerie ablief, sondern eine Art Bürgerinitiative – der allerdings „das“ Bürgertum misstrauisch gegenüberstand – die von der Kommune versäumte Aufgabe nachholte. Käthe Löwenberg-Gröschler, die Sprecherin der Besuchergruppe, formulierte in einem Rundfunkinterview und in ihrer Rede beim Ehrenempfang durch die Stadt Jever im Schloss von Jever: „Wenn die Stadt uns eingeladen hätte, dann wäre es für uns noch eine große Frage gewesen, ob wir gekommen wären. Aber der Grund, dass wir die Einladung schließlich doch angenommen haben, sind die jungen Menschen, die das organisiert haben. Und da haben wir uns gesagt: Wir müssen ihnen die Hand reichen“.
Das Foto gibt Anlass, auf Details einzugehen. Walter Groschler und Gert Sternberg hatten die Aufnahmeprüfung für die Sexta des Mariengymnasiums bereits bestanden, wurden dann aber – nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 – vom NSDAP-Ortsgruppenleiter, der gleichzeitig über Nacht zum Schulleiter aufgestiegen war, „als Juden“ zurückgewiesen. Die unter der Führung eines Volksschullehrers stehende Hitlerjugend versuchte die beiden mehrfach zu verprügeln und schnitt ihnen in Wittmund, wo sie eine Schule gefunden hatten, die Reifen der Fahrräder durch. Gert Sternberg wanderte nach langen Monaten des Wartens auf ein Visum und einer höchst gefährlichen Reise zusammen mit Eltern und Bruder 1939 nach Argentinien aus und lebt heute als Elektromeister in Toronto. Sein Bruder Rolf lehrt Geographie an einem College bei New York, gilt als internationaler Experte für Staudammbau in Südamerika und finanzierte sich sein Studium als Bäcker in New York. Frank Gale musste als britischer Soldat nach Kriegsende in Berlin 1946 den Tod seiner Eltern erfahren, die zwei Jahre zuvor in Auschwitz ermordet worden waren. Er war u.a. eingesetzt zur Bewachung der NS-Verbrecher in Spandau. Er berichtete, wie auch andere Besucher, über antisemitische Ausfälle von bestimmten Lehrern der jeverschen Volksschule, die im Jever der Gegenwart als rechtschaffene Leute gelten. Walter Groschler war früh auf sich gestellt, da er ohne Familie bereits als 13jähriger von den Eltern aus Nazi-Deutschland nach Palästina in Sicherheit gebracht wurde. Sein Vater, das langjährige Stadtratsmitglied Hermann Gröschler, kam 1944 im KZ Bergen-Belsen um. Walter Groschler kämpfte auf Seiten der Engländer in Ägypten gegen die Faschisten und war wenige Jahre nach Kriegsende in Jever, wo, wie er erzählte, „alles nett um mich herumschwänzelte“. Frank Gale arbeitet in Northampton in der Textilbranche, Walter Groschler in Montreal in demselben Bereich, während John Winston in Nottingham Computer least. Frank Gale und John Winston entkamen 1938 mit einem der sog. Kindertransporte nach England.
Käthe Löwenberg-Gröschler emigrierte 1937 nach Holland und wurde von mutigen Groningern nach dem Uberfall Deutschlands jahrelang, Anne-Frank-gleich, zusammen mit ihrem Mann versteckt, während ihr Vater gefasst und zu Tode gequält wurde. Sie und ihre Schwester Trude Haas besuchten vor 1933 das Lyzeum in Jever; Kontakte zu ehemaligen Mitschülern haben sich erstmals während der Besuchswoche ergeben. Der Bruder von Hanna Angres, Dr. Paul de Levie (gest. 1974 in Israel), war 1922 der letzte der etwa 15 jüdischen Schüler, die von 1870 ab am Mariengymnasium das Reifezeugnis erreichten. Lieselott Spitzer übernahm 1926 als junges Mädchen nach dem Tode des Vaters das Getreidegeschäft, half später der Synagogen-Gemeinde als Rechnungsführerin. Sie berichtete über die „Reichskristallnacht“ 1938, als nach Brandschatzung der Synagoge alle männlichen Juden Jevers ins KZ verschleppt und dort misshandelt und zahlreiche Wohnungen von umherziehenden SA-Horden geplündert und verwüstet wurden. Frau Spitzers Mutter wurde 1941 in den Osten deportiert. Rose Aron nahm während der Besuchswoche an einem turnusmäßigen Treffen ihrer alten Schulklasse teil, das zufällig gleichzeitig stattfand. Niemand hatte sich in all den Jahren die Mühe gemacht, ihre Adresse ausfindig zu machen! Sie und ihr Bruder Alfred Josephs – die Eltern kamen in Theresienstadt um – erzählten von ihrer Cousine Erna Josephs in New York, die die Einladung nicht angenommen hatte. Bei einer Frühgeburt, die durch Gewalttätigkeiten Jeveraner Nationalsozialisten provoziert wurde, kurz vor der Emigration 1940, wurde ihr in Jever ärztliche Hilfe verweigert, so dass das Embryo starb und sie nur knapp dem Tod entkam. Auch Max Biberfeld aus Israel sagte ab: „Nach Deutschland kann ich nicht kommen, weil ich dort in einer furchtbaren seelischen Verfassung sein würde; ich würde dort immer nur an das qualvolle Ende meiner Eltern und vieler Verwandter denken müssen.“ Er hatte 1928/29 als Schüler am Mariengymnasium ein biografisch einschneidendes Erlebnis: „Was ich am Mariengymnasium als Jude auszustehen hatte, hat mir einen Schock fürs Leben versetzt, andererseits mir das Leben gerettet, weil ich nach 1933 bald auswanderte, da ich wusste, was ich zu erwarten hatte.“ (Zitate aus Briefen an den Autor) Andere Emigranten konnten wegen Alter oder Krankheit nicht kommen.
Es ist eigentlich nicht zu fassen, dass trotz allem so viele zur Flucht getriebene ehemalige Mitbürger Jevers auf eine Einladung hin, für die schon Jahrzehnte Zeit gewesen wäre, ihre Hand ausstreckten, kamen und offen für ernsthafte Gespräche, mit jedem, der wollte, waren. Sie ließen sich auf das Abenteuer der eigenen Vergangenheit ein – und konnten auch in Jever trotz der manchmal sichtbaren Tränen lachen. Die fast 40jährige Phase des Totschweigens der Vertreibung und Ermordung der jüdischen Mitbürger sowie der Verdrängung der unrühmlichen Vergangenheit der sich ansonsten putzsauber gerierenden Bier- und Schlossstadt Jever erscheint beendet. Das ist die eigentliche Grundlage der sich neu aufbauenden Beziehungen. Käthe Löwenberg Gröschler: „Es war für uns eine wertvolle Erfahrung, eine Gruppe junger Deutscher getroffen zu haben, die Verständnis für das deutsch-jüdische Schicksal besitzt und die Geschehnisse der Nazivergangenheit aufgearbeitet und unverblümt ausgesprochen hat. Lasst uns hoffen, dass diese Bestrebungen dazu beitragen, die noch vielfach herrschende Mentalität zu verändern.“
Der Besuch war auch eine Lehrstunde über das Thema „Heimat“. Jever die „Heimat der Emigranten“ zu nennen ist Verfälschung. „Ehemaliger Wohnort von zu Auswanderung und Flucht getriebenen Jeveranern, der jüdischen Emigranten,“ ist richtig. Heimat jedoch ist das Jeverland für manche der Besucher geblieben, als eine Möglichkeit des Gefühls in seiner anderen, emotionalen Sprache, die mörderische Geschichte nicht zu verstehen. Die 1907 in Jever geborene Lieselott Spitzer reflektierte dies in einem offenen Brief: „Jever war meine Heimat, dort verbrachte ich die ersten 30 Jahre meines Lebens, bis es nicht mehr ging und auch ich den dornigen Weg der Auswanderung anzutreten hatte. Aber gerade während dieser Woche ist mir die Erinnerung an den ersten Weltkrieg in den Sinn gekommen, in dem so viele jüdische Männer ihr Leben hergegeben haben. Wenn dann die Benachrichtungen kamen, hieß es > auf dem Felde der Ehre gefallen < und weiter > der Dank des Vaterlandes ist Dir gewiss <. So dachten wir, es ist auch unser Vaterland. Es hat keine zwei Jahrzehnte gedauert, dass wir eines anderen belehrt worden sind. Jetzt nach ungefähr 50 Jahren haben wir uns wieder in Jever getroffen, waren wieder einmal mit denen zusammen, mit denen wir die Schulbank gedrückt haben. Es war einfach wunderbar und übertraf alle Erwartungen. Es war wie ein schöner Traum, von dem man nicht erwachen möchte …“ (NWZ, 19.5.1984).
Das nationalsozialistische Deutschland ermordete nicht nur die Angehörigen und trieb die Überlebenden in alle nur möglichen Richtungen, sondern raubte ihnen auch die Verwirklichung von Heimat. Ein Mensch wird nicht einfach so vertrieben – und dann ist er da angekommen, wohin es ihn verschlagen hat, sondern Vertreibung und Emigration sind Teil seines Lebens. Viele Besucher sprachen offen aus, dass sie sich nirgends so recht zuhause fühlten und entwickelten „komischerweise“ – trotz der vielen schlimmen Erinnerungen – einen neuen Bezug zu Jever. Der Gefühlskontakt zum Ding Jever, den Häusern, Straßen, Plätzen, dem Geruch, der Luft, dem Licht war stark, der zu den Menschen Jevers entwickelt sich möglicherweise wieder. Die während der Besuchswoche geschaffenen Kontakte gehen – bald ein halbes Jahr später – per Brief, Telefon und Besuch weiter; auch die Absagenden sind offener geworden.
Insofern hat der Besuch vielen auch gezeigt, dass sie einen Teil ihrer selbst bei der Flucht nicht verloren, sondern nur weggepackt haben, ja vermutlich aus Selbstschutz wegpacken mussten. Und sie können jetzt selbst diesen Teil wieder kennen lernen, wenn sie wollen. Eine Tochter sagte über ihren Vater am Ende der Woche: „Ich habe ihn noch nie so lebendig gesehen, wie während dieser sieben Tage.“ Akzeptiert man diesen Zusammenhang, dann ging die Misshandlung der ehemaligen jüdischen Mitbürger nach 1945 weiter. Indem man die Holocaust-Problematik totschwieg und die ehemaligen Mitbürger schlichtweg aktiv vergaß, stahl man ihnen die Heimat bzw. die Chance darauf ein zweites Mal.
„Fast kann man bei Eurem Beispiel ja Hoffnung kriegen, dass Veränderung möglich ist“, schrieb der Journalist Gerhard Kromschröder dem Projekt. Ich glaube, das beschreibt treffend die Funktion der Humanität in unserer Gesellschaft und bewertet das Projekt „Juden besuchen Jever“ illusionslos. Der Besuch der jüdischen Emigranten ist geglückt, aber wer hätte es sich bei dem Thema getraut, die spürbar vielfach hochgezogene Gummiwand durch offene Ablehnung zu ersetzen? Einen Monat nach dem Besuch wurde eine kranke Türkin, Mutter zweier Kinder, die in demselben Haus wie ich wohnte, nach 19 Jahren in der Bundesrepublik ausgewiesen, weil sie keine Arbeit mehr fand. Die Familie ist jetzt auseinandergerissen. Projekte wie das in Jever bewahren die Chance zu einer Veränderung der Gesellschaft, indem sie, immer im Nachhinein, ein paar Scherben des Systems kitten.
(Juli 1984; teilweise veröffentlicht in: Die Alte Schulglocke: Mitteilungsblatt des Vereins ehemaliger Schüler des Mariengymnasiums zu Jever.- 1984/67, S. 7f.)