Iko Andrae: Abrechnung ohne Hass – über die Wiederbegegnung von Juden mit ihrer Heimatstadt Jever (Juni 1984)

Jever erlebte ein Ereignis, das auf sich hatte warten lassen. Jahrzehntelang. Eine Projekt­gruppe von Schülern und Lehr­ern des örtlichen Mariengym­nasiums wagte den Schritt, die Hand der Freundschaft all de­nen entgegenzustrecken, die während des „Dritten Reiches“ ihrer Religionszugehörigkeit wegen aus Jever vertrieben wurden oder gerade noch dem Tod in den Konzentrations­- und Vernichtungslagern entge­hen konnten. Eingeladen wur­den die Überlebenden der ehe­mals sehr zahlreichen jüdi­schen Gemeinde Jevers, die heute auf der ganzen Welt ver­streut leben.

Käthe Löwenberg-Gröschler als Sprecherin der Besuchergruppe am 25.4.1984 im Schloss Jever, rechts Ehemann Dr. Alfred Löwenberg. Stadtdirektor Hashagen, der zunächst den Besuch hatte ausbremsen wollen, hält das Mikrophon für Dr. Erwin Bienewald von Radio Bremen. (Foto C.-G. Friederichsen)

Die meisten dieser Men­schen, deren Bürger- und Le­bensrechte man vor 50 Jahren aberkannte, hatten ihren Geburts- und Wohnort nie wieder betreten. Eine der Emigranten, Käthe Löwenberg-Gröschler, die heute mit ihrem Ehemann in Groningen lebt, sprach auf dem Ehrenempfang der Stadt und des Landkreises für die dreizehn, die teilweise mit ih­ren Angehörigen angereist wa­ren: „Als gebürtige Jeveranerin und eine der Älteren ist es mir ein Bedürfnis, einige Gedanken auszusprechen. Als wir nach beinahe 50 Jahren im Ausland zuerst von der Einladung hör­ten, reagierten wir, und wahr­scheinlich soll es einigen ande­ren jeveraner Juden ebenso ge­gangen sein, skeptisch, hatte es doch in fast 50 Jahren keinen Versuch zu einem Kontakt ge­geben. Aber sehr wahrschein­lich wären wir in einem frühe­ren Stadium auch noch nicht reif gewesen, um eine uns ge­reichte Hand zu akzeptieren. Wir wussten wohl, dass einige Bestrebungen im Gange waren, wie z. B. die der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusam­menarbeit in Oldenburg. Der Grund, dass wir dieser Einla­dung Folge geleistet haben, ist einzig euch Schülern und Lehr­ern des Mariengymnasiums zu verdanken. Ihr seid junge Men­schen, die zur Zeit des Natio­nalsozialismus noch nicht ge­boren waren. Ihr seid unbelastet von der Vergangenheit.“

Als erster der Gäste traf Rolf Sternberg eine Woche vor der offiziellen Begegnungswoche aus New York ein. Ich möchte an dieser Stelle, als ein Beispiel für viele, die Geschichte Rolf Sternbergs ein wenig aus­führen.

Als Rolf Sternberg zehn Jahre alt war, hatte er nicht das Recht, das Mariengymnasium oder eine andere weiterbil­dende Schule zu besuchen, weil die Nazis regierten, und er jüdischen Glaubens war. Dank den Bemühungen seines Vaters, Phillip Sternberg, der das Haus in der Schlosser­straße verkaufte und dann mit seiner Familie zunächst zu Ver­wandten nach Krefeld und spä­ter nach Bremen zog, konnte er nach langem, verzweifelten Warten noch nach Kriegsbe­ginn endlich die Auswande­rung über Italien nach Argenti­nien erreichen.

Prof. Dr. Rolf Sternberg (r.) am 16.4.1984 vor seinem Elternhaus, Schlosserstr. 22. Mit dabei Ehefrau Frances, Karen Krumrei (Projekt) und das Ehepaar Tapken, das zum Tee eingeladen hatte.

In Südamerika bearbeiteten die Sternbergs eine Farm und verließen wieder das Land aus Furcht vor Peron und seinen Helfershelfern aus Nazi-Deutschland. So landeten sie schließlich, 1946, in den USA. Rolf Sternberg arbeitete in ei­ner Bäckerei und ging abends zum Englisch-Unterricht, spä­ter dann zur High-School und zur Universität. Zunächst hatte er politische Wissenschaften und Geschichte studiert, später dann Geographie. Er promo­vierte und ist jetzt Professor an einer Universität im Staat New York.

„Natürlich werdet ihr begrei­fen, dass diese Wiederbege­gnung mit unserer Heimatstadt für uns alle gewiss nicht leicht ist, verbunden mit emotional geladenen Gefühlen. Wir er­kennen die Straßen und zum Teil die Häuser, in denen wir und unsere Eltern, Angehörige und Freunde gelebt haben, und aus denen wir ALLE vertrieben wurden. Dies bedeutete für den überwiegenden Teil der HO­LOCAUST.“ (Käthe Löwenberg-Gröschler)

Begonnen hatten die Vorbe­reitungen für diese Begegnung im November 1982. Die Pro­jektgruppe, die in wechselnder Besetzung bereits seit 1978 exi­stiert und schon einige Ausstel­lungen, Aktionen und einen Fernsehfilm über den Weg Je­vers in das Dritte Reich ge­macht hatte, beschäftigte sich während dieser Zeit mit der Aufarbeitung der Geschichte der Juden in Jever und ent­deckte dabei viele Spuren, Spu­ren der Ermordeten und der Überlebenden. Viele Fragen blieben unbeantwortet und konnten durch keine Ausstel­lung geklärt werden. Was kam nach der Emigration? Wie be­urteilen die, die dem Holocaust entfliehen konnten, das Ge­schehene heute?

Der einzige Überlebende, der nach der Emigration nach Jever zurückkehrte, war Fritz Levy. Er hatte in Shanghai überlebt und kam 1950 aus San Francisco zurück. Er gab der Projektgruppe viele Anstöße für die Aufarbeitung dieser Zeit, er war sozusagen Inspirator, Helfer und Freund der Projektgruppe und Mitglied im Rat des jeverschen Jugendzentrums. Für viele Jeveraner jedoch war er das überlebende schlechte Gewissen, ein Mensch, der allein durch sein Auftreten, durch seine Anwesenheit provozierte, den Leuten in offene Wunden griff.

Bei meiner Rückkehr nach Jever 1950“, sagte Levy einmal, „das muss man sich so vorstellen wie Andorra, dieses Theaterstück von Max Frisch. Die Verhältnisse, wie sie sich entwickelt haben und wie der Mensch da drin steckt. Wenn ich wieder herkommen, sagte ich mir, dann muss ich die Dinge so nehmen, wie sie sind. Und ich sagte mir, von denen die Nazis wurden, da wurden ja auch viele reingetrieben, darauf gedrillt, durch Erziehung, Beruf und so. Wenn du damals geboren wärst, wärst du vielleicht auch ein Nazi geworden. Erst haben sie alle schön getan, aber ein paar Jahre später haben sie wie­der Courage gehabt, den Nazi zu spielen, haben geglaubt, sie könnten über mich herziehen, da haben die wieder Oberwas­ser gekriegt. Ich konnte mit der Zeit hinkommen, wo ich wollte, zum Beispiel in ein Lo­kal in Hooksiel, ich bestell mir einen Kaffee und ein Ei und da sagt einer, für das, was du da isst, müssen wir bezahlen. Das sollte eine Anspielung sein auf Wiedergutmachung und so, als ob ich Millionen bekommen hätte. Ich wollte ja gar nichts haben, ich sagte mir, die Leute in Deutschland haben sowieso verloren. Und diese Fälle gab es mehr wie genug.“

Erst in hohem Alter fand Fritz Levy Anerkennung, be­sonders bei den Jugendlichen Jevers, die ihn so liebten, wie er sich selbst gab, als lieben, aber verständlicherweise äußerst zy­nischen Menschen, als „Ulenspeel“, „Diogenes“, als „Amateur-Viehlosoph, Stabsdirek­tor, Berufsverbrecher etc.“, als „Schandfleck und neuer Jesus in Jever“ und als „der einzige Nazi“, denn: Wenn, wie er sagte, keiner ein Nazi gewesen sein will, dann war er eben der einzige, denn einer musste es ja gewesen sein. Ein Akt der Anerkennung und der Rebellion gleichzeitig war es wohl, der dazu führte, dass Fritz Levy bei den Kommu­nalwahlen 1981 in den Stadtrat Jevers gewählt wurde. Somit war er nach dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde Joseph David Joseph (1835-1936) und seinem Nachfolger Hermann Gröschler (1880-1944) nun der dritte Stadtrat jüdischen Glau­bens in Jever im 20. Jahrhundert. Es war ein Erei­gnis, das ihn über Nacht welt­bekannt machte.

Fritz Levy und das Projektmitglied Martin Illgen auf den Spuren der jüdischen Einwohner Jevers. Levys Gedächtnis und das Adressbuch von 1923 führten zur Kartierung der einstigen Wohnorte. (Foto H. Peters, 1982)

Fritz Levy half der Projekt­gruppe bei der Suche nach den Spuren der Ermordeten, beim Wiederfinden jüdischer Wohn­häuser, bei der Suche nach dem Alltag im Nationalsozialis­mus und bei der Erkenntnis, dass die Geschichte lebt, dass sie etwas Erfahrbares ist und dass viele, die in ihr eine aktive oder passive Rolle spielten, heute noch unter uns sind, viele, die auch heute noch liebend gern weiterschweigen würden.

Fritz Levy konnte an der Be­gegnung mit den Emigranten nicht mehr teilnehmen, obwohl er die Ausstellung über die Ge­schichte der Juden Jevers noch mit vorbereitet hatte. Er wählte im Oktober 1982 den Freitod und wurde als letzter in Jever lebender Bürger jüdischen Glaubens am 1. November 1982 auf dem jüdischen Fried­hof in Schenum bei Jever be­graben.

Antje Naujoks und Silke Kelling (v.l.) bei der Rede des Projekts „Juden besuchen Jever“ am 25.5.1984 im Schloss Jever (Foto C.-G. Friederichsen)

Besonders deutlich machte die Projektgruppe ihre Ziele und ihre Motivation bei dem Ehrenempfang der Emigranten durch die Stadt Jever und den Landkreis Friesland am 25. Ap­ril im Audienzsaal des jever­schen Schlosses: „Vielen Leu­ten ist es wohl unklar, was un­ser Ziel war und ist, nämlich, dass die Vertriebenen ihren al­ten Wohnort wiedersehen, alte Kontakte aufgefrischt werden und über die Vergangenheit ge­redet wird, anstatt sie totzusch­weigen. So wollen wir nicht nur ein Zeichen der Versöh­nung setzen, sondern auch ei­nen politischen Akzent, und zwar, dass so etwas auch in ei­ner kleinen Stadt wie Jever möglich ist. Über die National­sozialistische Vergangenheit wird hier erst seit drei Jahren öffentlich gesprochen. Mangel an Nachdenken, Verdrängung und Schweigen ärgern, beunru­higen, oder machen fassungs­los. Dagegen macht uns Angst, dass sich ja alles wiederholen kann, bestimmt in einer ande­ren, zeitangepassten Form und sicherlich nicht an den Juden. Seit Beginn der neuen Wirtschaftskrise zeigen sich wieder und immer noch antidemokra­tische Tendenzen in unserer Gesellschaft, bis hin zu Fa­schismen, und wiederum sind sie gegen bestimmte Personen­kreise oder Denkweisen gerich­tet. Wir haben allen Grund auf­zupassen!“

Im November 1982 entstand die Idee, die Emigranten einzu­laden. Es wurden Adressen ge­sammelt und an die Stadt die Forderung gestellt, die Organi­sation zu übernehmen. Nach­dem von der Stadt keine ver­bindliche Zusage zu bekom­men war (Bedenken wurden laut, man wüsste ja gar nicht, wie viele der Emigranten einer Einladung Folge leisten wür­den, wenn …), stellte schließ­lich die Projektgruppe die Stadtväter vor vollendete Tat­sachen: Die auf der ganzen Welt verstreut lebenden Juden wurden einfach angeschrieben und eingeladen.

Die Bevölkerung zeigte sich zunächst recht zurückhaltend, vielleicht, weil es Jugendliche waren, die die Initiative ergrif­fen hatten und die ganze Ange­legenheit deshalb vielen Bür­gern wohl nicht seriös genug erschien. Für viele war es dann aber selbstverständlich, als die Aktion angerollt war, auf den fahrenden Zug zu springen. In der Öffentlichkeit sah es fast so aus, als stünde die breite Masse der Jeveraner Bürger hinter der Aktion, auch hinter der Orga­nisation, dabei hatte die Pro­jektgruppe große Mühe, den organisatorischen Aufwand zu bewältigen und musste dabei inhaltliche Abstriche machen.

Plakat zum Benefizkonzert der populären „Ostfreezn All Stars“ um den Schlagzeuger Mike Spohr für „Juden besuchen Jever“ (Archiv H. Peters)

Über 400 Bürger spendeten, jeversche Rockgruppen gaben Benefizkonzerte, die Stadtkan­torei sang, es wurden vielerlei Aktivitäten entwickelt, die be­nötigten 50 000 Mark zusam­menzubekommen und so den Besuch der Emigranten in Jever möglich zu machen.

Die offizielle Begegnungswoche begann am 23. April, Ostermontag, mit dem Eintreffen der Emigranten. Es gab bewegte Begrüßungsszenen untereinander, denn viele hatten sich seit der Emigration noch nicht wieder­sehen können. Aber auch die Projektgruppe hatte von An­fang an ein herzliches Verhält­nis zu ihren Gästen.

Erster offizieller Akt war die Begrüßung im Mariengymna­sium, der eine Führung durch die Altstadt folgte. Diese Führung war für die Gäste die erste Begegnung mit ihrer Ver­gangenheit. Geburtshäuser wurden aufgesucht, Plätze, an denen man mit christlichen Nachbarskindern gespielt hatte, wiederentdeckt. Es war aber auch ein Gang durch Stra­ßen, in denen Leute wohnten, die vor 1933 einfach nur Nach­barn waren und sich danach plötzlich wie Barbaren verhiel­ten, oder aber den Verbrechen teilnahmslos zusahen. Als be­sonders beeindruckend emp­fundene Veranstaltungen die­ser Woche müssen der Begeg­nungsabend, das Gespräch mit der Jugend, der Gebetsabend und der ökumenische Gottes­dienst hervorgehoben werden.

Am Mittwochabend, dem 25. April, sahen im Gemeindehaus am Kirchplatz viele Jeveraner Bürger ihre ehemaligen jüdi­schen Klassenkameraden und Freunde wieder. Es wurden viele Kontakte neu geknüpft und viele Fragen gestellt, die zu lange unbeantwortet waren. Es darf aber an dieser Stelle nicht so aussehen, als seien die Mit­bürger von damals ohne Hem­mungen aufeinander zugegan­gen. Es dauerte noch eine Weile, bis Mauern und Hemm­schwellen überschritten waren.

„Sie kommen mit Entschul­digungen, denen wir etwas skeptisch gegenüberstehen“, sagte Hans Weinstein aus Not­tingham nach diesem Abend. Viel unbefangener war die Begegnung mit den Jugendli­chen Jevers, die diese Zeit ja nicht mehr miterlebt hatten und so ohne Schuldgefühle auf die Gäste zukamen.

Hassen, sagte Rolf Sternberg während seines Besuches eine Woche vorher, könne er trotz allem nicht mehr, denn wenn man nicht einmal ein Ende zu machen sich bemühe mit all dem Hass, dann könne es nie friedlich werden auf dieser Welt.

Eine pauschale Beurteilung dieser Woche kann ich nicht geben. Sicher, sie war gut und wurde von allen Beteiligten so empfunden. Sie war sehr wichtig für die Gäste, für die alten und die neuen Freunde in Jever und für die Projektgruppe. Sie war von geradezu globaler Bedeutung für den Prozess der Aussöhnung zwischen den Verfolgten, den Verfolgern und der großen Masse, die zusah und nachher nichts gewusst haben wollte. Aber ist das möglich, solange die große Masse das Geschehen, wie auch wie der während der Begegnungswoche, nur aus der Zeitung verfolgt und sich ansonsten zu­rückhält? Es wird mir mulmig zumute bei dem Gedanken, dass eine solche schweigende Masse den Holocaust ermög­lichte und sich so etwas wie­derholen könnte.

Auf den öffentlichen Abenden wurden vergangene Beziehungen zwischen Vertriebenen und Einheimischen sichtbar, wie hier in der Begegnung zweier Schulfreundinnen. (28.4.1984; Foto C.-G. Friederichsen)

An vielen Jeveranern ist diese Woche wie ein Film, eine Nachrichtensendung vorbeige­gangen: „In Jever sind Emig­ranten eingetroffen“, Ende! Man hat ja nichts damit zu tun, wie man schon vor 50 Jahren nichts damit zu tun haben wollte, als Juden, Demokraten, Christen und Kommunisten auf offener Straße festgenommen wurden, als man sie in die Kon­zentrationslager steckte, als Nachbarn einfach so ver­schwanden. Viele Reaktionen auf die Begegnungswoche zei­gen mir, dass ich zwar sehr schlecht über meine Mitbürger urteile, aber in dem Punkt des nicht vorhandenen Interesses leider richtig liege. Für die Stadt Jever, der „Perle Fries­lands“, war die Woche ein Ima­ge-Gewinn. Aber als der Bür­germeister von einer teilweisen Wiedergutmachung sprach, merkte ich, dass er und andere nicht begriffen haben, worum es in dieser Woche ei­gentlich ging.

Ich möchte abschließend noch einmal Käthe Löwenberg-Gröschler aus ihrer Rede während des Ehrenempfangs zitieren, in der sie ein Fazit der Begegnungswoche schon vor­wegnahm: „Wir nehmen die Genugtuung mit nach Hause, dass ein Teil der Jugend hier heute bestrebt ist, mit der Ver­gangenheit abzurechnen. Ich möchte hieran noch die War­nung verbinden, wach zu blei­ben. Der Dämon der Vernich­tung ist angeschlagen, aber nicht tot. Nazis und Neonazis warten immer wieder auf Mög­lichkeiten.“

(erschienen in „Ostfrieslandmagazin“, 1984/6, S. 28 ff.)