Übersichtsseite: Besuch der in der NS-Zeit vertriebenen Juden in Jever im Jahre 1984: Dokumentation
Eigentlich hatte der Besuch von 13 ehemaligen Jeveranern jüdischen Glaubens schon in der Karwoche stattfinden sollen, aber der frühere Landesrabbiner von Oldenburg protestierte: Das sei nicht der rechte Zeitpunkt, vertriebene Juden in ihre alte Heimat einzuladen.
Dennoch kam in der Woche vor Ostern Prof. Rolf Sternberg aus New York zusammen mit seiner Frau Frances nach Jever – als einziger übrigens auf der letzten Etappe mit der Bundesbahn. Vortragsverpflichtungen in Washington ließen dem promovierten Geographen keine andere Wahl. Für ihn war alles, was er in Jever und Umgebung sah, ungeheuer interessant. Nicht nur das elterliche Haus in der Schlosserstraße, das er nach 45 Jahren erstmalig wiedersah, wusste er genau zu vergleichen mit dem baulichen Zustand, der ihm als Junge vertraut war. „Von deinem Großvater hat mein Vater damals auch das Vieh gekauft“, hörte staunend Jürgen Onnen (Abitur 1978) vor der Mühle von Stumpens, die Sternberg aus allen möglichen Blickrichtungen mit seiner Leica festhielt.
„Ich muss noch weitere Bildexpeditionen nach dort machen, um die Kulturlandschaft vollständiger in Bildern zu dokumentieren“, schrieb er mir im letzten Brief, ehe er zu Forschungsaufträgen nach Brasilien aufbrach. Der Elisabeth-Außengroden blieb so ziemlich das einzige „Neuland“, mit dem der Gast aus den Staaten keine Jugenderinnerungen verband. Für die besondere Vogel- und Pflanzenwelt dieses Küstenstreifens interessierte sich besonders seine Frau, Biologielehrerin an einer New Yorker Privatschule. Beeindruckt schien sie von der Ausstattung der Biologieräume des Mariengymnasiums. Beneidenswert in den Augen des deutschen Kollegen zu erfahren, dass Frau Sternberg nicht mehr als ein Dutzend Schüler pro Klasse unterrichtet, die bei ihr außerdem schon als Elfjährige das Programmieren erlernen. Vorher hatte man die kartographischen Kostbarkeiten der Bibliothek inspiziert. Die Gespräche kreisten u. a. um den Beitrag, den friesische Geographen für die Kartierung der Neuen Welt geleistet haben. Sogar die von Thünenschen Ringe gehören, wie wir erfuhren, zum Lernprogramm der amerikanischen Hochschulgeographie.
Als am Freitag die Besuchswoche von Ehepaar Sternberg mit einem gemeinsamen Abendessen zu Ende ging, erreichte uns plötzlich die Nachricht, dass die Cousine von Rolf Sternberg mit ihrem aus Dresden gebürtigen Mann auf dem Flughafen in Bremen auf ihren Weitertransport nach Jever warte. Entgegen der vom Reisebüro gegebenen Information hatte Familie Wachsman in Frankfurt doch noch den direkten Anschluß an ihre Maschine aus Buenos Aires bzw. Asuncion bekommen. Sie hatten von allen Besuchern die weiteste Anreise und waren über 24 Stunden unterwegs. Das Treffen mit dem Vetter fand noch am selben Abend im Haus der Familie Müller, Anton-Günther-Straße, statt. Es war bewegend für den Außenstehenden, mitzuerleben, wie stark Familienbande sein können, selbst wenn man in verschiedenen Kontinenten lebt. Da fragte man bald nach diesem, bald nach jenem, und nur zu oft verfiel man aus dem Deutschen in die gewohnteren Umgangssprachen Spanisch oder Englisch. In Buenos Aires hatte man sich schon etliche Male getroffen – schließlich war Argentinien das erste ständige Gastland für die aus Deutschland vertriebenen Familien, aber in Jever sieht man sich jetzt seit der Kindheit zum ersten Mal. Anders war es bei Gerald (Gert) Sternberg, dem Bruder von Rolf. Ihn hatte vor Jahren Dieter Mammen zu einem Klassentreffen eingeladen, und Gerald war wirklich angereist – aus Kanada! Ihn sahen wir erst am Montag, freundlich, jovial wie sein Bruder, von ansteckender Fröhlichkeit. Er hat in diesen Tagen (Ende August 1984) Besuch von dem früheren Rektor einer hiesigen Grundschule. Die beiden hatten sich auf dem Begegnungsabend am Mittwoch angefreundet.
Martha Isaac war die einzige „deutsche“ Teilnehmerin der Besuchsgruppe. Gebürtig aus dem Osnabrücker Land, hatte sie ihre Schulferien des Öfteren bei den Großeltern in Aurich verlebt. In Chile hatte sie zusammen mit ihrem Mann Heinz, der aus Jever stammte, eine Landwirtschaft betrieben. Nach dem frühen Tod ihres Mannes zog sie zu ihrer Schwiegermutter nach Hamburg. Als wir gemeinsam mit Wachsmans am Karsamstag nach Aurich fuhren, fand Frau Isaac das großelterliche Haus erst nach längerem Suchen. Zu sehr hatte sich die Fassade inzwischen verändert. Unser Gast hatte zuerst den Wunsch, einen Blick ins Innere zu werfen, wagte es dann aber doch nicht. Ähnlich ging es ihm, als wir endlich die Lage des jüdischen Friedhofes (an der Emder Straße) ausfindig gemacht hatten. – Tage später erzählte mir der 74jährige Alfred Josephs, wie sehr er sich gefreut habe, die Initialen seiner Familie in der Wasserpfortstraße gegenüber der früheren Synagoge wiederzuentdecken.
Für Helga Herz de Wachsman gab es in Esens kein Elternhaus mehr zu besichtigen. Nach dem Zwangsverkauf hatte eine Bombe, fast die einzige, die auf Esens fiel, das schöne Pensionat mit den Reitställen dem Erdboden gleichgemacht. Ehe Fräulein Herz mit ihren Eltern auswanderte, war sie Kindergärtnerin in einem Kinderheim in Bensersiel gewesen. „In den ersten Jahren in Argentinien bin ich vor Sehnsucht nach dem Nordseestrand fast krank geworden“ – in ihrem Herzen ist Frau Wachsman Friesin geblieben. Vom Esenser Kirchturm fällt ihr Blick auf die ehemalige Knabenschule. Hier hatten Mitschüler damals ihren Bruder vom Geländer gestürzt. Beim Aufstieg stolperte Herr Wachsman über eine Stufe – er leidet an der Zitterlähmung, einer Krankheit, die andere Jeveraner davon abgehalten hat, überhaupt nach Jever zu kommen.
Solchen Eindrücken, die mich an die leidvolle Vergangenheit erinnern, stehen andere gegenüber, die mich für eine bessere Zukunft im Verhältnis von Juden und Deutschen/Christen (?) hoffen lassen. Wir hatten Wachsmans und Frau Isaac zum Osterbraten (natürlich nicht zum Schweine- !) zu uns eingeladen. Nachdem ich selbst einen Psalm aus der Luther-Bibel gelesen hatte, fragte ich unsere Gäste, ob sie uns die Freude machen wollten, dieselben Worte einmal in der Ursprache vorzutragen. Welch eine Überraschung für uns Christen, dass alle drei Juden in der Lage waren, den Urtext auf Hebräisch zu singen – denn für den Juden sind die Psalmen ja echte Lieder!
Daran wurde ich erinnert, als die kleine „Diasporagemeinde“ am Freitagabend der Woche darauf im evangelischen Pfarrhaus zusammenkam, um mit dem jetzigen Landesrabbiner von Hannover und Gästen ihren Sabbatabend zu begehen. Wenn man auch nicht bei allen solch ein lebendiges Verhältnis zur Synagogengemeinde vermuten kann wie bei der ältesten der Gröschlertöchter, so schien es mir doch, als hätten unsere Gäste an diesem Abend ihre Identität als Juden neu gefunden.
Für alle, die dabei waren, ein denkwürdiges Ereignis, dass am folgenden Vormittag – fast 46 Jahre nach der Vernichtung der Synagoge und fast 25 Jahre nach dem Brand der alten Kirche ein gemeinsamer Gottesdienst von Juden und Christen in Jever stattfinden konnte! Neben dem Ortsgeistlichen und einem katholischen Priester lesen und predigen Gottes Wort in deutscher und hebräischer Sprache ein Rabbiner und der Sohn des letzten Synagogenvorstehers. Man singt u. a. das Psalmlied „Jauchzt alle Lande Gott zu Ehren“, von dem uns Chaim Storosum am 3. April an gleichem Ort den jüdischen Ursprung auch für die Melodie offengelegt hatte. In der Schriftlesung aus der Thora hieß es: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. So antwortet auch Jesus auf die Frage nach dem höchsten Gebot. Hier wurde deutlich: Hier und nur hier liegt die Chance einer erneuerten Brüderlichkeit, die Christen und Juden der Welt vorleben dürfen.
Auf die Frage eines Ex-Abiturienten beim Gespräch mit der Jugend am Freitagvormittag, ob er als Jude den Deutschen vergeben könne, antwortete Frank Gale (Fritz Gröschler): „Gegenüber denen, die uns das angetan haben, bleibt ein Gefühl der Bitterkeit; das betrifft nicht die anderen Deutschen und schon gar nicht die junge Generation.“ Und Rolf Sternberg stellt die Gegenfrage: „Warum hassen? Hass wirkt zerstörerisch, nicht nur in Bezug auf den Gegner, sondern auch auf einen selbst. Also werde ich besser nicht hassen!“
Ohne einen Wortwechsel verließ Sternberg das Lokal in der Mühlenstraße, wo ihn ein Betrunkener mit den Worten „anmachte“: „Bist du eigentlich ein Pfaffe oder ’n Jude?“ Das, was an abfälligen Bemerkungen über die Juden folgte, machte nur allzu deutlich, dass dieser Mitbürger seine Lektion noch nicht gelernt hatte.
In vino veritas … – ob nicht das Judesein doch etwas mit dem christlichen Priesterstand zu tun hat? Aber soweit hatte der Fragesteller nun wohl auch wieder nicht gedacht.
Jever, den 21. August 1984
Werner Beyer
(veröffentlicht in: Die alte Schulglocke: Mitteilungsblatt des Vereins ehemaliger Schüler des Mariengymnasiums Jever, Nr. 67, Weihnachten 1984, S. 6f.)