von Werner Menke
Im Januar 1905 brachte der kleine Verlag E. Erichson in Wilhelmshaven die erste Nummer einer neuen Zeitschrift heraus, die den knappen Titel ‚Der Friese’ trug. Der wesentlich längere Untertitel ‚Illustrierte Halbmonatsschrift für Geschichte, Landes- u. Volkskunde, Sprache, Kunst und Literatur des Friesenvolkes’ verdeutlicht die Themen, denen sich die Zeitschrift zuwenden will. In der vorstellenden Einführung benennt der Schriftleiter, der ehemalige Gymnasiallehrer Friedrich Wilhelm Riemann aus Jever, die Zielsetzung genauer: „’Der Friese’ schließt politische Aufsätze , Fraktionsgezänk, Klatsch, Schimpf und jede Art ephemerer Erregung ebenso wie religiöse und konfessionelle Streitigkeiten von seinen Inhalten aus. ‚Der Friese’ will allein die ethnographisch-historisch-antiquarischen Verhältnisse des ganzen Friesengebietes von der Ems bis zur Eider in Besprechung ziehen und so die Gemeinschaft aller von Friesen bewohnten Küstenstriche wieder erneuern, wie sie einst vor grauen Jahren zur Zeit der sogenannten Republik der sieben friesischen Seelande bestanden hat.“
Riemann, 1851 in Gotha (Sachsen-Coburg) geboren, hatte hier auch seine Schulzeit verbracht. Nach dem Philologie- und Geschichtsstudium in Jena kam er im Alter von 27 Jahren nach Friesland, wo er eine Stelle am Mariengymnasium Jever antrat. Hier unterrichtete er Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Französisch sowie auch Latein und Griechisch. 1902 wurde ihm der Professorentitel verliehen. Neben seiner Lehrtätigkeit betreute Riemann auch die Bibliothek der Schule, in der ihm reichlich Material für regionalgeschichtliche Untersuchungen zur Verfügung stand. Im Lauf der Jahre entwickelte Riemann rege heimatkundliche Aktivitäten, aus denen sich verschiedene Publikationen ergaben. Das setzte Riemann nach seinem frühzeitigen Abschied aus dem Schuldienst Mitte 1902 in verstärktem Maße fort. Bekannt wurde seine auf drei Bände angelegte ‚Geschichte des Jeverlandes’, von der allerdings nur zwei Bände in Buchform erschienen sind. Daneben verfasste er eine große Anzahl weiterer Veröffentlichungen, in erster Linie Aufsätze für verschiedene Zeitungen, so für das Jeversche Wochenblatt.
Riemann engagierte sich stark im Jeverländischen Altertumsverein und war auch Mitglied der Getreuen von Jever, über die er 1891 die erste Monografie verfasste. Sein gesamtes Wirken zeigt auf, dass die Region für Riemann nicht allein (und vielleicht nicht einmal in erster Linie) Gegenstand forschenden Interesses war, sondern dass er sich auch in hohem Maße mit dieser Region identifizierte. Diese Mischung aus emotionaler Zuwendung und forschender Aneignung, verbunden mit dem Bemühen um Erhaltung des als wertvoll erkannten Tradierten, ist kennzeichnend für die Heimatbewegung, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte und gerade auch im Küstenraum starke Wurzeln schlug.
Der Heimatbewegung ist auch ‚Der Friese’ verpflichtet. Allerdings war der Zeitschrift trotz einer ansprechenden Gestaltung mit Jugendstilelementen offenbar kein Erfolg beschieden, schon nach wenigen Nummern stellte sie ihr Erscheinen, wahrscheinlich bereits mit dem Heft 9 im Juni 1905, ein. Vielleicht war dafür auch die geringe Zahl der Beiträger ausschlaggebend – fast alle längeren Aufsätze steuerte Riemann selbst bei. Dazu wurden einige Erzählungen des bereits 1902 verstorbenen Theodor Dirks wieder abgedruckt, die schon früher an anderen Orten veröffentlicht worden waren.
In jeder Ausgabe der Zeitschrift finden sich Gedichtbeiträge. Mit solchen vertreten sind z.B. Hermann Allmers (1821 –1902), dessen Gedicht ‚Friesengruß’ das erste Heft eröffnet, Helene Lantzius-Beninga aus Varel und G. W. Zimmerli , der aus der Schweiz stammende Accumer Pastor, der sich in seiner Freizeit literarisch betätigte. Besonders viele Gedichte (darunter das ‚Friesenlied’) stammen von Richard Deye (1853 – 1903), einem heute nicht mehr bekannten, seinerzeit aber durchaus angesehenen Lyriker, der in Jever geboren wurde, 1874 das Mariengymnasium absolvierte, dann aber sein weiteres Leben in München verbrachte. Zeitlebens blieb Deye seiner Heimat verbunden, Themen von der Küste bestimmten weiterhin sein Werk. Bezeichnend ist, dass Deye seinen Gedichtband „Vom grünen Zweig“ 1885 unter dem Namen Richard van Jever veröffentichte.
Im Folgenden sollen jedoch zwei Gedichte von August Schwabe aus Jever näher vorgestellt werden. Das erste kann mit seiner überschwänglichen Feier des friesischen „Menschenschlages“ in besonderem Maße die Ausrichtung der Zeitschrift an den Zielen der Heimatbewegung veranschaulichen:
Friesenblut
Das Friesenblut, es ist ein edel Blut,
Und rollt durch freien Menschenschlages Adern,
Wen es durchströmt, der hat den hohen Mut,
Schlägt ihm das Schicksal Wunden, nie zu hadern;
Des Auge blicket offen, schauet frei,
Des Sinnen geht stets auf geraden Wegen
Der Freundschaft bringt er unentwegte Treu’,
Der Feindschaft Ehrlichkeit im Kampf entgegen;
Der hebt auch nicht in stolz betörtem Wahn
Sich über seinen Nächsten, seine Brüder,
Der gleitet nimmer auf des Lasters Bahn
Zum Sumpfe der Verworfenheit hernieder,
Der hält in sichrer, starker Manneshand
Gar fest die Zügel edler Zucht und Sitte,
Und scheut zurück nicht, böser Triebe Brand
Hinwegzumerzen aus der Seinen Mitte;
Des kräft’ger Arm ist immer hilfbereit
Zum Rettungswerk aus Unglück und aus Nöten,
Des Herzensadel suchet allezeit
Das Vorurteil im Keime zu ertöten!
Wer anders denkt und redet oder tut,
Voll stolzen Dünkels auf verbriefte Rechte,
In dessen Adern fließt kein Friesenblut,
Und sei er auch aus edelstem Geschlechte!
Das Gedicht nimmt den in der Regionalliteratur weit verbreiteten Topos des freien Friesen auf (Str. I, Vers 2), der in seiner Stärke, Ehrlichkeit , Geradlinigkeit, Treue und tatkräftigen Hilfsbereitschaft zu einem Idealbild verklärt wird. Entscheidender Wert, der den wahren Friesen auszeichnet, ist der Seelenadel (vgl. Str. III, V.3: Herzensadel), der viel höher zählt als ein noch so hoher Geburtsadel (vgl. die letzten vier Verse der dritten Strophe). Ist dieser oft Anlass für Hochmut und Dünkel, so liegt dem Friesen jede Selbstüberhebung fern. Als charakterlich herausragender Mensch ist er gegen die Versuchungen der Moderne gefeit (vgl. Str. II). Die Warnung vor ‚Laster’ und ‚Verworfenheit’ durchzieht die abendländische Geistesgeschichte, gegen Ende des 19. Jahrhunderts bekommt sie in wertekonservativen Kreisen allerdings besonderes Gewicht, wähnen diese doch in vielen Erscheinungsformen der Moderne eine sittliche Gefährdung des Menschen. Gerade aus den Irritationen durch das moderne Leben, wie es sich in den zu dieser Zeit entstehenden Großstädten ausprägt, gewinnt die Heimatbewegung wesentliche Triebkraft, indem der Verunsicherung durch die Moderne die Rückbesinnung auf das Tradierte, auf die Region und auf die Verwurzelung hier entgegengestellt wird.
In diesen Zusammenhängen ist die klischeehafte Feier des Volksstamms zu sehen, dem man sich zugehörig fühlt. Im Gedicht wird der „friesische Mensch“ als tatkräftiger, offener, ehrlicher Charakter dargestellt, der sich vom Schicksal nicht besiegen lässt und dem alles wesensfremd ist, was sittlich fragwürdig ist. So kann er zum Kämpfer für „Zucht und Sitte“ werden, der bereit ist, radikal gegen alles, was die Seinen moralisch bedroht, vorzugehen, es „hinwegzumerzen“.
Das Gedicht verwendet eine um die Jahrhundertwende in heimatbewegten Kreisen weit verbreitete Bildlichkeit und Wortwahl. Das Gedicht benutzt stellenweise ein Vokabular und auch ein Gedankengut, das durch den späteren Gebrauch in der Sprache der nationalsozialistischen Ideologie diskreditiert wurde. Das gilt insbesondere für die Blutsmetaphorik, die bei Schwabe aber patriotisch und nicht völkisch-rassistisch gemeint ist. (Inwiefern NS-Ideologeme in Vorstellungen der Heimatbewegung schon angelegt waren bzw. die offensichtlich vorhandenen Verbindungslinien können hier nicht erörtert werden.)
Ein solches Gedicht wird heute die meisten Menschen nicht mehr ansprechen. Gefälliger mag ein anderer Text desselben Autors wirken, der in niederdeutscher Mundart, im Jeverländer Platt, geschrieben ist:
In den vier Strophen wird in schlichter Sprache eine sommerliche Situation in einem ländlichen Raum eingefangen. Bestimmend für die sich im Gedicht artikulierende Haltung ist die Muße des erlebenden Ichs. In freier Übersetzung: Ich schau nach vorn, ich schau zurück… Ich setz mich hin, wo ich gerade steh …Ich habe Zeit, denn ich komme ja mit Sicherheit noch früh genug in den Ort. Diese innere Haltung ermöglicht ein verstärktes Erleben der Natur, mit der sich der Mensch im Einklang fühlt.
Selbst wenn man nicht wüsste, dass der Text vor über einhundert Jahren gedruckt worden ist, würde man sofort spüren, dass es sich um ein älteres Gedicht handelt: Seine durch naturnahe bäuerliche Tätigkeit geprägte Feldflurszenerie mit dem engen Nebeneinander von Roggen- und Weizenfeldern, die mit Mohn- und Kornblumen durchsetzt sind, ist im Zeitalter industrieller Landwirtschaft schon lange vergangen. Die Klinkerpfade, in früheren Jahrzehnten ein charakteristisches Merkmal vor allem der jeverländischen Marschgebiete, existieren nur noch in kleinen Resten. Auch wenn das Bild der sich küssenden Ähren poetisch letztlich nicht überzeugen kann, bleibt doch festzustellen, dass das Gedicht insgesamt ein gelungenes Bild sommerlicher Stimmung im Jeverland um 1900 vermittelt.
Es geht im Zusammenhang dieser Betrachtungen jedoch nicht in erster Linie darum, die literarische Qualität der beiden Gedichte zu erörtern, denn diese interessieren weniger als sprachliche Kunstwerke denn als Zeugnisse von Heimatbewusstsein, wie es um 1900 zum Ausdruck kam. In der hymnischen Feier des friesischen Stammes, des friesischen Blutes auf der einen und dem idyllischen Stimmungsbild in heimatlicher Mundart, dem Jeverschen Platt, auf der anderen Seite begegnen zwei Ausformungen von Heimatdichtung, die auf dieselbe Wurzel zurückgehen: auf ein Gefühl enger Verbundenheit mit der Region, der man sich zugehörig fühlt und in der man Geborgenheit zu finden glaubt.
Ein zusätzliches Interesse für die Gedichte stellt sich ein, wenn man bedenkt, dass ihr Verfasser Angehörige der jüdischen Gemeinde Jevers war. Diese umfasste um 1905 mit 209 Menschen 3,5% der Gesamtbevölkerung der Stadt, die seinerzeit ca. 6.000 Einwohner zählte. August Schwabe war 1847 als Sohn von Isaac A. Schwabe geboren worden, der als Schneidermeister in Jever lebte. Isaac A. Schwabe starb 1903 im 88. Lebensjahr. Während der jüngere Sohn Moses Schwabe (1857 – 1942) beruflich seinem Vater folgte und als Schneidermeister einen kleinen Textilladen an der Prinzenallee (Mönchswarf) führte, war August Schwabe Uhrmacher geworden, und unterhielt einen Laden in der Schlachtstraße. Um 1900 übernahm er eine Lotterieannahmestelle und firmierte fortan auch als Lotterieeinnehmer.
Beide Brüder hatten Ämter in der jeverschen Synagogengemeinde inne, beide waren allem Anschein nach in die kleinstädtische Gesellschaft integriert. So gehörte August Schwabe 1877 zu den Gründungsmitgliedern des Bürger-Gesangvereins „Liederkranz“, dessen Mitglieder hauptsächlich Handwerker waren. Zum 50. Jubiläum des Vereins 1927 verfasste Schwabe den ‚Vorspruch’, den er allerdings – vielleicht altersbedingt – bei der Feier nicht selbst vortrug und der ein klares Zeugnis deutsch-nationaler Sicht auf die Krise der Weimarer Zeit („Deutschlands heil´ge Not“) gibt:
Willkommen zum Jubelfeste!
Euch allen, Brüder, eins im deutschen Sang,
in Heimattreu verbunden lebenslang,
aus offnem Herzen ein „Gott grüße euch!“,
der schlichte deutsche Gruß, dem keiner gleich!
Wir steh´ n zusammen heute, Hand in Hand,
im Lied zu preisen Volk und Vaterland,
im Lied zu klagen Deutschlands heil´ge Not,
im Lied zu schwören Treue bis zum Tod!
Der „Liederkranz’“ hatte sich in erster Linie der Pflege des einfachen Volklieds verschrieben „mit seinen süßen, oft zu Herzen gehenden Melodien“. Mit dieser Zielsetzung setzte sich er vom Männergesangsverein „Liedertafel“ und vom „Singverein“ ab, die sich eher dem Kunstlied widmeten. Das Volkslied hat August Schwabe offenbar sein Leben lang viel bedeutet, hierin sah er eine Quelle, aus dem er Lebensfreude schöpfte. „Wunderborn“ ist der Titel eines weiteren Gedichts von August Schwabe, das in Heft 1 von „Der Friese“ veröffentlicht wurde. Schwabe verstarb im Alter von 85 Jahren am 29. März 1932 in Jever.
An seinem Todestag findet sich im Jeverschen Wochenblatt außer der Traueranzeige der Familie auch ein redaktioneller Beitrag: „Der Lotterieeinnehmer August Schwabe … erreichte ein Alter von 85 Jahren, die er fast restlos in seiner Vaterstadt Jever verlebte. In allen Kreisen der Bürgerschaft war der Verstorbene als ein ruhiger, angenehmer Mensch gern gesehen. In seiner Eigenschaft als Lotterieeinnehmer konnte er in manches Haus eine Freudenbotschaft tragen. Bei vielen festlichen Gelegenheiten und auch in seinen Mußestunden trat er als feinsinniger Dichter hervor. Das Wochenblatt hat viele seiner Gedichte bei passender Gelegenheit veröffentlicht.“
Dem Juden August Schwabe wird damit ein ehrenvoller Nachruf gewidmet, und das in einer Zeit, in der sich in den nationalsozialistischen Kreisen, die inzwischen in Jever und insbesondere auch beim Jeverschen Wochenblatt einflussreich vertreten waren, eine aggressiv antisemitische Haltung zeigte. Die NSDAP erzielte in Jever und dem Jeverland bei den Wahlen zum Oldenburger Landtag im Mai 1932 über 63,7% der Stimmen.
Der Tod des zehn Jahre jüngeren Bruders Moses Schwabe wird in Jever nicht mehr registriert. Moses Schwabe starb 1942, von den Nazis aus Jever „evakuiert“, in Dortmund in einem „Judenhaus“ kurz vor der Deportation nach Riga. Fast alle anderen Verwandten wurden ermordet.
Innerhalb nur einer Generation hatten sich die Verhältnisse entscheidend geändert. Eine Art „goldene Zeit“ um die Jahrhundertwende, in der trotz der bestehenden Vorbehalte die Jeveraner jüdischen Glaubens in die kleinstädtische Gesellschaft in vieler Hinsicht integriert schienen, war durch den Rassenwahn blutig beendet worden. Die jüdischen Bürger waren aus dieser Region, die sie als ihre Heimat liebten und verteidigten, wie die Gedichte August Schwabes eindrucksvoll belegen, ausgeschlossen worden. Ihre ‚Suche nach Geborgenheit’ hatte in Jever wie im übrigen Deutschland keinen Platz gefunden.
Auf Einzelquellennachweise wurde verzichtet. Der Beitrag erschien in kürzerer Form und unter einem anderen Titel zuerst in: Historienkalender auf das Jahr 2007.- Jever 2006, S. 120 – 125. Redaktion H. Peters, 03/2015
Quellen, Literatur
- Ditt, Karl: Die deutsche Heimatbewegung 1871 – 1945.- In: Heimat: Analysen, Themen, Perspektiven.- Bonn 1990, S. 135 ff.
- Festschrift zur 50jährigen Jubelfeier der Bürger-Gesangvereins `Liederkranz´ in Jever am 4. Dez. 1927 im Konzerthaus.- Jever 1927
- Meiners, Uwe (Hg.): Suche nach Geborgenheit: Heimatbewegung in Stadt und Land Oldenburg,- Oldenburg 2002
- Peters, Hartmut: Verbannte Bürger: Die Juden aus Jever.- Jever 1984
- Schloss-Bibliothek Jever („Der Friese“); Archiv H. Peters, Wilhelmshaven