Jeverland: Die Gestapomorde 1944 in Sillenstede und Altgarmssiel

von Holger Frerichs (Schlossmuseum Jever)

In den Landkreis Friesland wurden 1939-1945, wie überall nach Deutschland, neben Kriegsgefangenen auch viele zivile Zwangsarbeiter aus verschiedenen besetzten europäischen Ländern verschleppt. Sie sollten die fehlenden deutschen Arbeitskräfte ersetzen, um die Kriegswirtschaft des Dritten Reiches aufrecht zu erhalten. Ihre genaue Zahl im gesamten Kreisgebiet ist bisher unbekannt. Die Unterlagen der damaligen Ausländerabteilung des Landratsamtes in Jever – es handelte sich um Karteikarten mit Lichtbildern und Fingerabdrücken, Register und Einzelfallakten – wurden „auf Befehl höheren Ortes einige Wochen vor der Kapitulation durch Feuer bezw. Einstampfen vernichtet“, wie im Juni 1949 der damalige Oberkreisdirektor Dr. Karl Steinhoff berichtete. In den Archiven überliefert sind jedoch genaue Namens- und Arbeitgeberverzeichnisse der AOK Friesland und der Landkrankenkasse für das Land Oldenburg, bei denen die in Friesland gemeldeten zivilen Zwangsarbeiter krankenversichert werden mussten. Allein die Liste der AOK Friesland umfasst knapp 3500 Namen. Eine für die Stadt Varel überlieferte und ausgewertete „Ausländer-Meldekartei“ weist für den Kriegszeitraum allein dort über 3000 Namen von ausländischen zivilen Arbeitskräften aus. Es ist also davon auszugehen, dass es sich bei den ausländischen Zwangsarbeitern im Landkreis Friesland um eine Gesamtzahl von mehreren tausend Männer und Frauen im Zeitraum zwischen 1939 und 1945 handelte. Die zahlenmäßig größten Kontingente an Zwangsarbeitern stammten aus Polen sowie der ehemaligen Sowjetunion („Ostarbeiter“), auch im Kreis Friesland bildeten sie die Mehrzahl.

Das gelb-violette „P“ – 1940 eingeführte Kennzeichnung für polnische Zwangsarbeiter in Deutschland. Im September 1941 folgte der „Gelbe Stern für Juden“ und ab Frühjahr 1942 das „Ost“-Abzeichen für Zwangsarbeitskräfte aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion (Sammlung H. Frerichs).
Das gelb-violette „P“ – 1940 eingeführte Kennzeichnung für polnische Zwangsarbeiter in Deutschland. Im September 1941 folgte der „Gelbe Stern für Juden“ und ab Frühjahr 1942 das „Ost“-Abzeichen für Zwangsarbeitskräfte aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion (Sammlung H. Frerichs).

Ähnlich wie der „Gelbe Stern“ für jüdische Bürger war auch für  „Zivilpolen“ und „Ostarbeiter“ eine besondere Kennzeichnung auf ihrer Kleidung, mit der sie gebrandmarkt bzw. jederzeit in der Öffentlichkeit erkennbar und kontrollierbar sein sollten, vorgeschrieben. Für diese in der NS-Propaganda „rassisch minderwertigen Slawen“ galten  besondere Verhaltensvorschriften („Polen-“ bzw. „Ostarbeiter“-Erlasse) und drakonische Strafandrohungen. Bei Arbeitsverweigerung, „Widersetzlichkeiten“ gegen ihre Dienstherren, Verstöße gegen das Kontaktverbot zu deutschen Frauen und aus anderen Gründen, wo immer das NS-Regime eine Bedrohung der „Staatssicherheit“ oder der „völkischen Hygiene“ sah, drohte den Betroffenen die Verhaftung durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo), Verhöre und Misshandlungen in Gestapo-Haft, möglicherweise die Einweisung in eines der berüchtigten NS-Haftlager („Arbeitserziehungslager“ oder KZ) oder eine „Sonderbehandlung“ durch staatspolizeiliche Exekution. Solche Hinrichtungen von Zwangsarbeitern wurden von der Gestapo teils in den Konzentrationslagern vollzogen, mancherorts aber auch in aller Öffentlichkeit. Aus dem Landkreis Friesland sind bisher zwei Fälle bekannt bzw. nachgewiesen, wo polnische Zwangsarbeiter auf diese Weise zur „Abschreckung“ öffentlich durch die Gestapo gehängt wurden. An beide Verbrechen und Opfer soll mit diesem Beitrag erinnert werden.

 

 

1943-03-15 Gestapo an Landrat

Bei der Überwachung und Verfolgung der polnischen Zwangsarbeiter in Friesland wirkten Landratsamt, NSDAP-Kreisleitung, örtliche Polizei und Gestapo in Wilhelmshaven eng zusammen, wie diese Korrespondenzen aus dem Jahr 1943 dokumentieren (Landesarchiv Oldenburg, Repros Sammlung H. Frerichs).
Bei der Überwachung und Verfolgung der polnischen Zwangsarbeiter in Friesland wirkten Landratsamt, NSDAP-Kreisleitung, örtliche Polizei und Gestapo in Wilhelmshaven eng zusammen, wie diese Korrespondenzen aus dem Jahr 1943 dokumentieren (Landesarchiv Oldenburg, Repros Sammlung H. Frerichs).

 

 

Warfreihe (Sillenstede), 29. Februar 1944

Der erste Gestapo-Mord an einem polnischen Zwangsarbeiter im Kreis Friesland ereignete sich Ende Februar 1944 in Sillenstede, damals Ortsteil der Gemeinde Kniphausen. Es handelte sich bei dem Polen um einen jungen Mann namens Leszek Adamiak, geboren am 15. Mai 1925 im polnischen Kalisz (damals im „Reichsgau Wartheland“, deutsche Bezeichnung: Kalisch). Er war katholisch, seine Eltern Franciszek und Helena Adamiak wohnten in der Feldstr. 1 in Kalisz. Wann Adamiak aus seiner Heimat verschleppt wurde, ist unbekannt. Sicher ist: Anfang April 1943, er war erst 17 Jahre alt, wurde er dem Landwirt Heino Gerriets in Purkswarfe bei Sillenstede (damals Gemeinde Kniphausen) für die Landarbeit zugewiesen. Die Zuteilungen solcher Zwangsarbeiter erfolgte – auf Anforderung der örtlichen NS-Ortsbauernschaft – unter Regie des für Friesland zuständigen Arbeitsamtes Wilhelmshaven.  Im Dezember 1943 verhaftete die Geheime Staatspolizei den Polen in Sillenstede.

Pastor Carl Woebcken (1878 – 1965)  berichtete 1946 in seiner Chronik der Gemeinde Kniphausen sowie in der Sillensteder Kirchenchronik: Der junge Pole habe seinen deutschen „Brotherrn“ Gerriets mit dem Stuhl geschlagen, andernorts heißt es, er wäre „widersetzlich“ gewesen und hätte ihn mit dem Fuß in den Leib getreten. Nachdem dieser Vorfall der Gestapo bekannt wurde, habe diese mit Hilfe der Gendarmerie den Polen festgenommen und in Bremen in Gewahrsam genommen. Ob Adamiak vorübergehend noch im Gestapo-Gefängnis in Wilhelmshaven in Haft saß, ist unklar.  Gängige Praxis bei solchen Fällen war, dass allein die Gestapo über das weitere Schicksal entschied, irgendein justizförmiges Verfahren gab es für die Polen nicht. In der Regel wurde nach oberflächlicher Untersuchung des „Falles“ das Strafmaß nach „staatspolizeilichem Ermessen“ festgelegt. Im Fall Adamiak beantragte die zuständige Staatspolizeistelle beim Reichssicherhauptamt Berlin – der Gestapo-Zentrale – die „Sonderbehandlung“ des Polen. In der Woebcken-Chronik wird erwähnt, dass damals auch der NSDAP-Kreisleiter für Friesland, der vorherige Kaufmann Hans Flügel aus Varel, massiv auf die Verhängung dieser exemplarischen Strafe gedrängt haben soll. Das Reichssicherheitshauptamt in Berlin folgte dem Vorschlag der Staatspolizeistelle und ordnete die Hinrichtung Adamiaks an.

Hans Flügel (1894 - 1991) amtierte als NSDAP-Kreisleiter Friesland von 1934 bis 1945. Zuvor, ab 1931, war er NSDAP-Kreisleiter vom (alten) Amt Varel. Er gilt als eine treibende Kraft bei der Unterdrückung der Zwangsarbeiter in seinem Bereich, wurde hierfür aber niemals gerichtlich zur Rechenschaft gezogen. Nach dem Krieg musste er wegen anderer Verbrechen insgesamt 5 Jahre Internierung und Gefängnis absitzen. Danach lebte er, als Gemüsebauer und Rentner, wieder in Varel. (Foto Archiv H. Peters)
Hans Flügel (1894 – 1991) amtierte als NSDAP-Kreisleiter Friesland von 1934 bis 1945. Zuvor, ab 1931, war er NSDAP-Kreisleiter vom (alten) Amt Varel. Er gilt als eine treibende Kraft bei der Unterdrückung der Zwangsarbeiter in seinem Bereich, wurde hierfür aber niemals gerichtlich zur Rechenschaft gezogen. Nach dem Krieg musste er wegen anderer Verbrechen insgesamt 5 Jahre Internierung und Gefängnis absitzen. Danach lebte er, als Gemüsebauer und Rentner, wieder in Varel. (Foto Archiv H. Peters)

Der Mord geschah am Dienstag, den 29. Februar 1944. Gegen Mittag fuhr in Sillenstede ein Lastkraftwagen mit Polizisten bzw. Gestapo-Beamten aus Bremen vor, die Adamiak und einen provisorischen Galgen mit sich führten. Der Galgen wurde aber nicht auf dem Gerriets-Hof in Purkswarfe, dem „Tatort“, sondern auf dem Hof von Landwirt Hermann Eden in Warfreihe aufgestellt. Bei solchen öffentlichen Exekutionen polnischer Zwangsarbeiter war es üblich, die in der Umgebung beschäftigten Landsleute des Opfers zum Zuschauen zu zwingen. Dies sollte der „Abschreckung“ dienen und deutlich machen, was jedem Polen bei tatsächlichen oder angeblichen gravierenden Verstößen gegen die Regeln in Nazi-Deutschland drohte. Adamiak wurde im Beisein seiner Landsleute erhängt, auch Mitglieder der Sillensteder „Landwacht“ (Hilfspolizisten) und örtliche Parteifunktionäre wohnten dem grausamen Schauspiel bei. Die Erhängung hätten zwei dazu abkommandierte „Verbrecher“ vollzogen, berichtet Woebcken weiter. Auch diese Praxis war gängig, die zu solcher Henkersarbeit gezwungenen Gestapo-Mithäftlinge erhielten anschließend Zigaretten und Extraportionen Verpflegung. Nach der Hinrichtung wurde durch einen anwesenden Arzt um 12.25 Uhr der Tod des 18jährigen festgestellt, die Leiche von Adamiak von den Gestapo-Beamten in einen mitgebrachten Sarg gelegt und auf dem LKW wieder mitgenommen. Das damals für Sillenstede zuständige Standesamt Kniphausen (Fedderwarden) fertigte zunächst keine Sterbeurkunde für Adamiak aus, dies geschah erst nach dem Krieg durch das nun zuständige Standesamt Sengwarden (mit der Nr. 7/1944). Nach vollzogener Hinrichtung des Polen begaben sich die Sillensteder Landwachtleute und Parteigrößen nach Sengwarden und hielten dort ein Gelage ab, auf dem es zur „Verarbeitung“ des Geschehens reichlich Schnaps gab. Letzteres soll damals bei manchem Zeugen durchaus Empörung ausgelöst haben, berichtet der Chronist Woebcken weiter.

Nach Kriegsende fanden in Sillenstede Ermittlungen über den Vorfall statt, zunächst 1945 durch polnische Besatzungssoldaten, 1948 auch durch die Kripo aus Oldenburg. Bei der Kreisverwaltung in Friesland musste man 1949 im Rahmen alliierter Suchaktionen nach „vermissten Ausländern“ klären, wohin die Leiche von Adamiak gebracht und das Opfer bestattet worden war. Diese Fragen konnte das Kreisamt damals aber nicht mehr beantworten. Sowohl die Bauern Gerriets und Eden wie auch alle anderen befragten Sillensteder Einwohner gaben an, darüber keine Kenntnis zu besitzen. Aus Unterlagen im Archiv des Internationalen Suchdienstes in Arolsen (ITS) lässt sich heute rekonstruieren, dass die Leiche Adamiaks von der Gestapo auf dem LKW nach Bremen mitgenommen, dort eingeäschert und die Urne mit der Bezeichnung „Asche 40209“ zunächst auf dem Friedhof in Bremen-Riensberg beigesetzt wurde. Nach dem Krieg mussten Gräber von ausländischen Zwangsarbeitern – geschützt durch das deutsche Gräbergesetz – öffentlich erhalten und gepflegt werden und erhielten ewiges Ruherecht. 1956 wurde die Urne von Riensberg auf den Friedhof Bremen-Osterholz umgebettet, die Urne ruht dort im sogenannten „KZ-Hügel“ im Feld K. Auf einer Gedenktafel findet sich dort sein Name.

Friedhof Bremen-Osterholz: Auf der rechten Tafel steht der Name von Leszek Adamiak, der 1944 von der Gestapo bei Sillenstede ermordet wurde. (Foto H. Frerichs)
Friedhof Bremen-Osterholz: Auf der rechten Tafel steht der Name von Leszek Adamiak, der 1944 von der Gestapo bei Sillenstede ermordet wurde. (Foto H. Frerichs)

 

Oesterdeichshof (Altgarmssiel/Tettens), 28. September 1944

Die zweite staatspolizeiliche Ermordung eines jungen polnischen Zwangsarbeiters im Landkreis Friesland ereignete sich einige Monate später auf dem Oesterdeichshof zwischen Tettens und Neugarmssiel (Gemeinde Wangerland).  Dort war dem Landwirt Johannes Leiner ein junger Pole für die Landarbeit zugeteilt worden. Er war während des Krieges einer von insgesamt sieben polnischen Zwangsarbeitern auf diesem Gehöft, wie in den Dokumenten im Archiv des Internationalen Suchdienstes vermerkt ist. Es handelte sich in diesem Fall um den am 5. März 1922 im polnischen Kreis Kutno  geborenen Stefan Fijalkowski, katholisch und ledig. Kutno war im Krieg ebenfalls Teil des annektierten Teil Polens im „Reichsgau Wartheland“. Fijalkowski muss spätestens im Frühjahr 1941 im Alter von 19 Jahren als Zwangsarbeiter nach Friesland gekommen sein,: Im Mai 1941 hatte er wegen einer geringfügigen Übertretung von Vorschriften vom Amtsgericht Jever einen Strafbefehl über 20 Reichsmark erhalten und bezahlt, für Januar/Februar 1943 ist noch ein Hospitalaufenthalt im Sophienstift in Jever dokumentiert. Irgendwann im Herbst 1944 geriet der junge Pole in die Fänge der Geheimen Staatspolizei. In der Tettenser Chronik von Erhard Ahlrichs von 2005 ist vermerkt, ihm sei ein Sittlichkeitsdelikt vorgeworfen worden. Wer diese Anzeige erstattete und sonstige genauere Hintergründe sind allerdings unbekannt. Auch im Fall Fijalkowski beantragte die zuständige Staatspolizeistelle beim Reichssicherhauptamt in Berlin die „Sonderbehandlung“ des Polen.

Am 28. September 1944, es war ein Donnerstag, fand auf dem Oesterdeichshof die öffentliche Hinrichtung statt. Wieder mussten in der Umgebung untergebrachte Landsleute des Opfers dem Schauspiel beiwohnen. NSDAP-Kreisleiter Flügel hatte hier u.a. angeordnet, dass der damalige stellvertretende NSDAP-Ortsgruppenleiter Ernst Habben und der Gemeinde-Beigeordnete Dudden dem Schauspiel beizuwohnen hätten. Angeblich sollen beide trotz dieser Anordnung aber nicht teilgenommen haben, ist in der Tettenser Chronik zu lesen. Als stramme Nationalsozialisten hatten sie zwar nichts gegen solche „Strafaktionen“ einzuwenden, wollten aber offenbar kein öffentliches Schauspiel. Die Hinrichtung wurde – wie in Sillenstede – mittels eines provisorisch errichteten Galgens durch Erhängen vollzogen. Hinterher gab es für alle Zuschauer, mit Ausnahme der Landsleute Fijalkowskis, ebenfalls eine „moralische Stärkung“, diesmal nebst Alkohol mit einer Erbsensuppe im „Deutschen Haus“ in Tettens. Die Sterbeurkunde fertigte das Standesamt in Hohenkirchen aus (Nr. 45/1944).

Anlässlich einer kriminalpolizeilichen Vernehmung am 10. April 1948 schilderte ein Augenzeuge, der damalige Kreisführer der Gendarmerie im Landkreis Friesland, Paul Lindner, der im Kreisamt in Jever seinen Dienstsitz hatte, weitere Einzelheiten zur Hinrichtung von Fijalkowski. Im Protokoll seiner Vernehmung ist zu lesen:

„Ich kann die folgende Erklärung in dieser Angelegenheit machen: Einen offiziellen Bericht über den Vorfall bei LEINER habe ich vom in Hohenkirchen stationierten Gendarmeriebeamten, Oberwachtmeister Tönjes, nicht erhalten. Aber ich erinnere mich, dass ich einen offiziellen Auftrag vom Landrat OTT in JEVER erhielt, den Landrat bei der Hinrichtung eines Polen auf dem Besitz von Leiner zu vertreten. OTT hat mir nichts weiteres über die Angelegenheit mitgeteilt. Ich gehorchte dem Befehl. Am Tag der Hinrichtung wurde ich durch den Chef der Gestapo in WILHELMSHAVEN, Hollack, mit dem Dienstwagen abgeholt. Neben Hollack waren noch 3 oder 4 weitere Stapo-Beamte in diesem Auto. Als wir den Hof erreichten, wo die Hinrichtung stattfinden sollte, sah ich den Delinquenten auf einem Wagen stehen und auf jeder Seite von ihm ein Pole. Der Wagen mit dem Polen stand in einer Scheune. Dann wurde ihm das Todesurteil laut vorgelesen. Soweit ich mich erinnere, war es Hollack, der ihm den Urteilsspruch vorlas, und das in deutscher Sprache. Ein polnischer Dolmetscher übersetzte das Urteil. Das Todesurteil wurde verhängt, weil er, der Pole, beschuldigt wurde, am minderjährigen Sohn des Bauern Leiner ein Sittlichkeitsdelikt begangen zu haben. Der Verurteilte nahm das Urteil ruhig und gefasst, aber er antwortete etwas in polnischer Sprache, Worte, die ich nicht verstand, aber es waren nur ein paar Worte.
Auf Vorhalt: Ich erinnere mich jetzt, dass diese Worte in die deutsche Sprache übersetzt wurden; der Verurteilte erklärte sich für nicht schuldig. Ich kann mich heute nicht mehr daran erinnern, ob Hollack Notiz von seinen Worten nahm. Dann wurde die Hinrichtung durchgeführt. Ein Seil war um seinen Hals gelegt worden; und der Wagen, auf dem der Pole stand, und vor  den ein Pferd gespannt worden war, wurde durch das Pferd weggezogen, so dass der Delinquent aus dem Wagen gezogen und im Seil  hing; er zuckte mit den Füßen und Händen für einen Moment, dann war er tot. Ein Holzsarg war für ihn bereitgestellt. Soweit ich weiß, wurde die Leiche auf dem Friedhof in Tettens begraben. Das ist die einzige Hinrichtung, der ich persönlich beiwohnte.“

Die Leiche von Fijalkowski wurde noch am gleichen Tag auf dem Tettenser Friedhof – „Westen Reihe 1 Grab Nr. 6“ – bestattet, das war unmittelbar beim Glockenturm. Sein Grab existiert heute in Tettens nicht mehr, da der Pole am 25. Oktober 1960 auf den Friedhof in Sande umgebettet wurde. Er ruht dort auf dem „Ausländerteil“ im Feld C. Sein Name ist allerdings nirgendwo mehr sichtbar, da auf diesem Grabfeld in Sande bis heute – entgegen anderslautender Vorschriften des Gräbergesetzes – nur ein anonymes Gräberfeld mit einem steinernen Hochkreuz und der Inschrift „Hier ruhen 102 ausländische Kriegstote“ zu finden ist. Bereits 1969 wurde dieser unwürdige Zustand anlässlich einer Besichtigung des Gräberfeldes durch den Landkreis und den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei der zuständigen Gemeinde Sande aktenkundig gemacht und die „Kennzeichnung der hier Bestatteten  als zwingend erforderlich“ angesehen. Geschehen ist bis heute, 45 Jahre später, aber immer noch nichts…

Anonymes Gräberfeld für ausländische „Kriegsopfer“ auf dem Friedhof Sande. Die sterblichen Überreste von Stefan Fijalkowski wurden im Oktober 1960 vom Friedhof Tettens hierher umgebettet. Obwohl das deutsche Gräbergesetz die namentliche Kennzeichnung vorschreibt, sind hier keine Namen der Opfer zu finden. (Foto H. Frerichs)
Anonymes Gräberfeld für ausländische „Kriegsopfer“ auf dem Friedhof Sande. Die sterblichen Überreste von Stefan Fijalkowski wurden im Oktober 1960 vom Friedhof Tettens hierher umgebettet. Obwohl das deutsche Gräbergesetz die namentliche Kennzeichnung vorschreibt, sind hier keine Namen der Opfer zu finden. (Foto H. Frerichs)

Nach dem Waffenstillstand in Nordwestdeutschland besetzten vom 6. bis 20. Mai 1945 zunächst polnische Truppen kampflos das Jeverland. Als sich die befreiten polnischen Zwangsarbeiter bei ihren Landsleuten über die oft schlechte Behandlung während des Krieges beschwerten, führten die Besatzungssoldaten Verhöre von Landwirten durch, die Polen beschäftigt hatten.  Die Tettenser Chronik berichtet u.a., dass sich der Oesterdeicher Landwirt Leiner, aber auch andere Bauern wegen ihres schlechten Gewissens in Getreidefelder und andere Verstecke geflüchtet hatten. Ein Nachbarbauer des Oesterdeichshofes wurde erschossen, acht weitere Landwirte aus Tettens und Umgebung eingesperrt und verprügelt, später aber wieder entlassen. Einzelne ehemalige polnische Zwangsarbeiter hielten sich mit privaten Raubzügen und anderen Übergriffen schadlos, Auch Pastor Woebcken berichtet über ähnliches Vorgehen der polnischen Soldaten und „Vorkommnisse“ mit den befreiten polnischen Zwangsarbeiter in den ersten Nachkriegswochen in Sillenstede. Die Opfer nahmen nun Rache für das, was ihnen zuvor von den „Herrenmenschen“ angetan wurde: Viele der Polen waren durch die Deportation aus ihrer Heimat teils jahrelang von ihren Familienangehörigen getrennt worden, viele Deutsche hatten sie als „minderwertige Polacken“ gedemütigt und oft mussten sie unter unwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen leiden. In der kollektiven Erinnerung der „Einheimischen“ im Wangerland und Sillenstede nehmen bis heute diese Vorkommnisse aus den ersten Wochen nach Kriegsende breiteren Raum ein als das, was in den Jahren zuvor in deutscher Verantwortung mit den ausländischen Zwangsarbeitern geschah und was man nach 1945 lieber schnell vergessen und verdrängen wollte.

Eine genauere Untersuchung über die Zahl, Herkunft, die Lager, Arbeits- und Lebensbedingungen, Einsatzorte und Opferzahlen der zwischen 1939 und 1945 überall im Jeverland zur Zwangsarbeit eingesetzten ausländischen Bürger fehlt bis heute. Eine ähnliche Feststellung muss auch für den südlichen Teil des Landkreises Friesland, also Varel und die Friesische Wehde, getroffen werden. Regionaler Forschungs- und Informationsbedarf ist somit noch reichlich vorhanden. Im Rahmen des für den Landkreis Friesland geplanten Projektes der „Erinnerungsorte“  sollten auch die Stätten des Leidens der ausländischen zivilen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen gebührende Beachtung finden. Dazu zählen unter vielen anderen die beiden Tatorte der Gestapo-Morde in Oesterdeichshof und Warfreihe.

Auf Einzelnachweise im Text wurde verzichtet. Der Text wurde zuerst veröffentlicht in: Jeversches Wochenblatt v. 7.3.2015, 487. Beilage „Friesische Heimat“.Ergänzungen vom März 2016.

 

Quellen

  • Archiv Internationaler Suchdienst Bad Arolsen, United States Holocaust Memorial Museum (Mikrofilme von Akten aus polnischen Archiven), Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg, Pfarrarchive Tettens und Sande; Sammlung Holger Frerichs
  • Ahlrichs, Erhard: Tettens.- Wangerland 2005

 

Copyright: Holger Frerichs, Hoher Weg 1, 26316 Varel; Version:  04.03.2016