von Holger Frerichs (Schlossmuseum Jever)
Vgl. auch die Artikel:
- „Die Geheime Staatspolizei in Wilhelmshaven“
- „Die Gestapomorde 1944 in Sillenstede und Altgarmssiel“
- Presseartikel der NWZ vom 08. August 2017 „Schwierige Spurensuche nach Jahrzehnten“
- Einleitung
- Die Denunziation, ihr Hintergrund und die Verhaftung
- Das Schicksal der Denunzierten: Konzentrationslager und Ermordung
- Zwei weitere Festnahmen im September 1941 im Ortsteil Varel-Streek
- Die Abschreckungsfunktion der Gestapo-Übergriffe und die Funktion von Denunziationen
Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) in Wilhelmshaven hatte aus Varel einen Tipp aus der Achternstraße bekommen: Zwei Frauen sollten Kontakte zu polnischen Zwangsarbeitern unterhalten haben – eine Verbindung, die unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft tödliche Folgen haben konnte. Beziehungen insbesondere osteuropäischer Zwangsarbeiter mit deutschen Frauen standen unter Strafe – sowohl für die Deutschen, insbesondere aber für die in der NS-Rassenideologie als „minderwertig“ eingestuften slawischen „Nichtarier“. Die Meldung vom 26. Sept. 19411 der Gestapo Wilhelmshaven an das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin dokumentiert, was am 19. September 1941 in Varel geschah. Vier Personen wurden festgenommen: „Beim RSHA wird für die Frauen Schutzhaft und Unterstellung in ein Konzentrationslager und für die Polen Sonderbehandlung beantragt.“
Die damals 23 Jahre alte Sophie Zahn, Mädchenname Ruseler, geboren am 7. Sept. 1918 in Bremen, lebte in der Achternstraße 8. Sophie Zahn stammte aus Bremen, war dann nach Varel gezogen und seit November 1939 mit dem Tischler und Zimmermann Ernst Zahn verheiratet. Am 9. Dez. 1940 wurde ihr Sohn Manfred geboren, der sich freundlicherweise bereit erklärte, dem Verfasser bei den Recherchen behilflich zu sein. Bei der zweiten Vareler Bürgerin handelte es sich um Alma Koch, Mädchenname Meinen, geboren am 13. Okt. 1912 in Schweiburg, damals also 28 Jahre alt. Sie war ebenfalls verheiratet, ihr Mann war Postschaffner, und Mutter von zwei Kindern. Frau Koch wohnte seinerzeit in der Achternstraße 6.
In unmittelbarer Nachbarschaft, in der Achternstraße 10, befand sich im Kriege das Wohnlager für die bei der Vareler Maschinenfabrik Heinen eingesetzten ausländischen Zwangsarbeiter. Die Firmengebäude befinden sich auch heute noch auf diesem Gelände. Hier waren die beiden polnischen Zwangsarbeiter untergebracht:2
Wladislaus Gwizdek, geboren am 3. Nov. 1913 in Piwcenice, lebte vor seiner Verschleppung nach Deutschland mit seinen Eltern Josef und Marjanna Gwizdek im polnischen Biersdorf (Kreis Kalisch). Gwizdek war von Beruf Dreher, katholischen Glaubens und seit Oktober 1938 mit Eugenja, Mädchenname Matyjasik, verheiratet. Er kam laut Meldekartei kurz nach seinem 27. Geburtstag am 7. Nov. 1940 mit einem Transport in Varel an und war zunächst im Gemeinschaftslager Alter Warf 23 gemeldet. Am 1. März 1941 wurde er für das Lager Achternstraße 10 umgemeldet und musste demzufolge seit diesem Zeitpunkt bei der Firma Heinen Zwangsarbeit verrichten.
Johann Ziolkowski, am 28. Juli 1922 ebenfalls im polnischen Kreis Kalisch geboren, war ledig und ebenfalls katholisch. Als Anschrift findet sich die Adresse seiner Mutter Maria Ziolkowski: Kalisch, Kneseler Str. 38. Er war von Beruf Schlosser und laut Meldekartei bereits vier Tage vor Gwizdek, am 4. Nov. 1940, nach Varel gekommen. Für ihn vermerkt die Kartei ebenfalls zunächst die Unterkunft im Gemeinschaftslager Alter Warf 23. Gemeinsam mit Gwizdek erfolgte dann am 1. März 1940 die Verlegung in die Achternstraße 10.
2. Die Denunziation, ihr Hintergrund und die Verhaftung
Nach Angaben von Frau Zahn ─ dokumentiert in einem im Familienarchiv befindlichen Schreiben an das Amtsgericht Varel vom 30.11.1946 ─ wurde sie, wie auch Frau Koch, im Herbst 1941 vom ebenfalls bei der Firma Heinen beschäftigten Kaufmann Alfred Niestedt denunziert, verbotene Beziehungen zu polnischen Zwangsarbeitern in der Maschinenfabrik zu unterhalten.
Bereits in den sogenannten „Polen-Erlassen“ vom 8. März 1940 waren vom NS-Regime die grundsätzlichen Bestimmungen festgelegt worden, nach denen bei „ausgeübtem Geschlechtsverkehr“, aber auch allen anderen „unsittlichen Handlungen“ der polnische Partner einer „Sonderbehandlung“ (d. h. Hinrichtung) zuzuführen war. Auch die deutschen Partner einer solchen Beziehung sollten verfolgt werden.
Als „gröbliche Verletzung des gesunden Volksempfindens“ hatte z. B. der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, aber bereits im Januar 1940 „jeglichen gesellschaftlichen Verkehr“ (bei Festen, Tanz usw.) angesehen. Was unter „Verkehr“ von den örtlichen Machthabern verstanden werden wollte, war jedoch unterschiedlich und willkürlich, zumal kaum eindeutig zu klären war, was Freundschaften, Hilfeleistungen, rein sexuelle Beziehungen oder wirkliche Liebesbeziehungen waren. Obwohl sich die Verbote des Umgangs dem Wortlaut nach auf Deutsche beiderlei Geschlechts bezogen, waren sie doch in erster Linie gegen die deutschen Frauen gerichtet, denen unter Umständen erst eine demütigende öffentliche Zurschaustellung, auf jeden Fall aber Haft im Konzentrationslager drohten. Dieses unmenschliche Vorgehen war nicht ausschließlich durch die rassenideologischen Prinzipien angetrieben, sondern wohl nicht zuletzt auch von der „schlichten Wut darüber, dass die ‚eigenen Frauen‘ sich mit ‚den Ausländern‘ einließen, ohne dass man das unterbinden konnte“.3
Trotz der ausländerfeindlichen Propaganda und entsprechender Strafandrohungen wurde die vom NS-Regime angestrebte abschreckende Wirkung nie vollständig erreicht und der „Verkehr mit Fremdvölkischen“ bildete spätestens seit Ende 1940 geradezu ein „Massendelikt“, dessen Verfolgung einen erheblichen Teil der Gestapo-Arbeit ausmachte. Auch in Varel bestand der „Verkehr“ zwischen den Beteiligten wohl eher aus freundschaftlichen Gesten der beiden deutschen Frauen. Sie hatten den polnischen Zwangsarbeitern Gwizdek und Ziokowski u.a. Schüsseln zur Verfügung gestellt, in denen die Zwangsarbeiter ihre Wäsche waschen konnten, sowie häufiger Lebensmittel zukommen lassen. Frau Koch hatte zudem „abfällige Bemerkungen über Hitler und den nationalsozialismus gemacht“, wie sie selbst in ihrem Haftentschädigungsantrag nach dem krieg erklärte. Auf jeden Fall hatte sich ein näherer Kontakt zwischen den vier jungen Leuten entwickelt.
Niestedt hatte in einem Schreiben an den damaligen NSDAP-Ortsgruppenleiter der NSDAP-Ortsgruppe Nordende, Alfred Braas, Hagenstr. 11, zunächst auch „nur“ gemeldet, er habe gesehen, dass Frau Zahn einem Polen eine Waschwanne geliehen habe. Aus diesem Brief und den nachfolgenden „Erkenntnissen“ wurde dann die Anzeige wegen unerlaubten Verkehrs mit den Polen hergeleitet. Alfred Braas war seit September 1940 stellvertretender amtierender Leiter der NSDAP-Ortsgruppe Varel-Nordende, die auch einen Bereich der Achternstraße umfasste – die Hausnummern Achternstraße 1 bis 18 gehörten zur Zelle 4, Block 3 dieser Ortsgruppe.
Der damalige NSDAP-Kreisleiter für den Landkreis Friesland, der ehemalige Kaufmann Hans Flügel aus der Mühlenstraße 2 in Varel, schaltete sich nach Angaben von Frau Zahn seinerzeit in den „Vorgang“ ein und soll geäußert haben, „dass in diesem Falle einmal ein Exempel statuiert werden müsse, um die Bevölkerung Varels vor solchen Taten zu warnen“.
Nach der Denunziation traf am Sonntag, dem 19. September 1941, ein motorisiertes Kommando der Staatspolizei-Dienststelle Wilhelmshaven in Varel ein. Als Leiter der Gestapo Wilhelmshaven, die zu dieser Zeit noch Leitstelle für den gesamten Raum Weser-Ems war, fungierte seinerzeit Dr. Wilhelm Scharpwinkel, der vorher u.a. bei einer SS-Einsatzgruppe im besetzten Polen Karriere gemacht hatte. Welche einzelnen Gestapo-Beamten in Varel tätig wurden und die Verhaftungen vornahmen, ist nicht überliefert. An die näheren Begleitumstände am Tag der Verhaftung erinnerte sich Frau Zahn: „Bei meiner Verhaftung durch die Gestapo Wilhelmshaven wurde ich gefragt, ob ich mich mit den Polen eingelassen hätte. Als ich dieses Ansinnen ablehnte, sagte der Beamte zu mir, dann wollen wir einmal Herrn Niestedt oder die Fabrik befragen. Daraufhin ging der Gestapobeamte zur Fabrik und holte die Polen aus dem Betriebe heraus, die dann in den Gefängniswagen gebracht wurden. Die Polen wurden dabei von den Beamten geschlagen und Herr Niestedt stand im Tor der Fabrik mit einem Zettel in der rechten Hand und sah diesem Treiben zu. Ich habe am Fenster unserer Wohnstube gestanden und habe diesen Vorfall genau beobachtet und kein anderer Beamte [Mitarbeiter] der Firma hat sich sehen lassen. Wenn man wegen einer solchen Sache 3 ½ Jahre in Haft gehalten wird, dann stehen einem die letzten Minuten der Freiheit mit aller Deutlichkeit vor Augen und [man] erkennt klar die Schuld oder Mitschuld eines Menschen.“
3. Das Schicksal der Denunzierten: Konzentrationslager und Ermordung
Auf die Verhaftung folgte der weitere Leidensweg für die vier Opfer. Eine öffentliche Anprangerung von Frau Zahn in Varel, wie in anderen Fällen dokumentiert, unterblieb. Sie wurde nach ihrer Verhaftung umgehend ins Staatspolizei-Gefängnis nach Wilhelmshaven gebracht und anschließend zu einem unbekannten Zeitpunkt ─ die Polizeiakten sind nicht überliefert ─ mit „Schutzhaft-Befehl“ der Staatspolizei Wilhelmshaven als „politischer Häftling“ ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück eingewiesen. Im zentralen deutschen Frauen-KZ waren seit Anfang des Jahres 1942 die Aufnahmen mit dem Haftgrund „unerlaubte Beziehungen zu Fremdarbeitern“ deutlich angestiegen. Bis Ende 1944 waren es schließlich mindestens 3.500 Frauen, die unter solchen Beschuldigungen in Ravensbrück eingeliefert wurden.4 Während ihrer Haftzeit wurde ihr Sohn Manfred, bei der Verhaftung erst neun Monate alt, von der Großmutter betreut. Im ersten Jahr ihrer Haft traf Sophie Zahn noch ein weiterer Schicksalsschlag: Ihr Ehemann erhielt als Wehrmachtssoldat (Oberschütze) im Ostfeldzug am 30. März 1942 einen Kopfschuss und verstarb an den Folgen der Verwundung am 1. Mai 1942.
Sophie Zahn blieb im KZ Ravensbrück dreieinhalb Jahre in Haft. Sie erzählte nach dem Kriege nach Angaben ihres Sohnes, dass sie auf Fürsprache des damaligen letzten Kommandanten in Ravensbrück, Fritz Suhren, kurz vor Kriegsende 1945 frei gekommen war. Sie hatte Suhren, was Häftlingen üblicherweise strengstens verboten war, angesprochen, warum sie denn inhaftiert sei. Dies hatte einen lokalgeschichtlichen Hintergrund: Fritz Suhren war ihr persönlich bekannt, denn er war am 10. Juni 1908 in Varel geboren und dort aufgewachsen.5
Als Sophie Zahn nach ihrer Haftentlassung wieder nach Varel zurückkam, konnte sie sich endlich ihres Jungen annehmen, der inzwischen fünf Jahre alt war. Neben den psychischen und gesundheitlichen Folgen der KZ-Haftbedingungen hatte sich Frau Zahn in den Nachkriegsjahren noch mit einer weiteren unangenehmen Folge der Denunziation auseinandersetzen: Im Jahre 1946 musste sie sich vor dem Amtsgericht Varel gegen den Vorwurf der üblen Nachrede wehren, da der Kaufmann Niestedt die Anschuldigungen von Frau Zahn nun seinerseits als Denunziation betrachtete. Die Gesundheit von Frau Zahn nach der Haftzeit blieb sehr angegriffen, sie litt z. B. zeitlebens unter Magenbeschwerden, die auf die Haft zurückzuführen waren. Frau Zahn erhielt nach dem Kriege eine Haftentschädigung und eine kleine Rente als Verfolgte des NS-Regimes. Sie starb am 7. Oktober 1989 im Vareler Altenwohnheim Simeon und Hanna.
Über über das Schicksal der zweiten jungen Frau, Alma Koch, konnten ebenfalls einige weitere Angaben recherchiert werden. In einer eidesstattlichen Erklärung zu ihrem Haftentschädigungsantrag erklärte sie 1947: „Meine Verhaftung durch die Gestapo erfolgte, weil ich polnischen Arbeitern häufiger Nahrungsmittel hatte zukommen lassen und abfällige Bemerkungen über Hitler und den Nationalsozialismus gemacht hatte. (…). Von der Gestapo wurde ich über Wilhelmshaven nach Vechta gebracht, wo ich etwa acht Wochen festgehalten wurde. Von Vechta wurde ich nach Hamburg gebracht. Dort wurde ich in einem Gefängnis des Polizeipräsidenten untergebracht und blieb darin infolge einer Erkrankung einige Monate bis April 1942. Von Hamburg kam ich dann in das KL Lager Ravensbrück, wo ich bis zum 14. Februar 1945 festgehalten worden bin. In Ravensbrück wurde mir eine sehr schlechte Behandlung zuteil, als ich im Februar 1945 entlassen wurde (…), wog ich nur noch 84 Pfund. Im KZ Ravensbrück waren Strafmaßnahmen wie Dunkelarrest und Stockhiebe gegen mich verhängt worden.“ Alma Koch wurde am 25. April 1942 von der Gestapo ins KZ Ravensbrück überstellt und mit der Häftlingsnummer 10661 registriert. Untergebracht war sie in Block 6. In der Zugangsliste ist sie als „politischer Häftling“ geführt, als weitere Eintragung findet sich noch der unvollständige Hinweis „Verkehr mit….“. Noch während ihrer Haft in Ravensbrück wurde ihre Ehe „schuldhaft“ geschieden. Nach ihrer Entlassung und Rückkehr in die nordwestdeutsche Heimat lebte sie in Kirchhammelwarden bei Brake (Landkreis Wesermarsch). Weitere Stationen ihres Lebensweges sind bisher nicht bekannt.
Für die beiden polnischen Zwangsarbeiter Wladislaus Gwizdek und Johann Ziolkowski waren die Folgen der Denunziation tödlich. Am 8. März 1940 hatte der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler, im Rahmen der „Polen-Erlasse“ alle Leitstellen der Gestapo angewiesen, dass eine drakonische Bestrafung polnischer Arbeitskräfte „für Verfehlungen auf sittlichem Gebiet“ vollzogen werden müsse: „Zivilarbeiter und Zivilarbeiterinnen polnischen Volkstums, die mit Deutschen Geschlechtsverkehr ausüben, oder sich sonstige unsittliche Handlungen zuschulden kommen lassen, sind sofort festzunehmen und dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD zur Erwirkung einer Sonderbehandlung fernschriftlich zu melden.“ Der Begriff „Sonderbehandlung“ stand in der nationalsozialistischen Terminologie für die staatspolizeiliche Exekution.
In weiteren Erlassen des Reichssicherheitshauptamtes vom September 1940 und Juli 1941 wurden die Regularien für das staatspolizeiliche Vorgehen mit rassenideologischer Gründlichkeit spezifiziert: Bei einer von der örtlichen Gestapo-Dienststelle vorgeschlagenen „Sonderbehandlung“ war sofort ein Bericht an das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin zu schicken, der mit Vernehmungsdurchschriften, amtsärztlichem „rassischem Gutachten“ sowie „die Rassenmerkmale deutlich kennzeichnenden Lichtbildern“ einzureichen war. Die zuständigen Referate im RSHA prüften dann den Fall. Der Sachbearbeiter des Ausländerreferats schlug aufgrund der Aktenlage ebenfalls die Hinrichtung vor und beantragte beim Leiter des Amtes IV (Gestapo) des RSHA, Heinrich Müller, die staatspolizeiliche Tötung. Müller, der RSHA-Leiter Heydrich (sein Nachfolger war Kaltenbrunner) oder SS-Chef Himmler mussten zustimmen und ordneten die Vollstreckung an. Mancherorts wurden die Exekutionen öffentlich im Beisein von Landsleuten des Opfers vollzogen, um als Abschreckung zu wirken. Meist fand die Ermordung in den Konzentrationslagern statt.
Bei Wladislaus Gwizdek zog sich die „Prüfung“ über einige Monate hin, er kam dann vom Gestapo-Gefängnis Wilhelmshaven zu einem unbekannten Zeitpunkt in das KZ Hamburg-Neuengamme. Dort wurde er – elf Monate nach seiner Verhaftung in Varel – vor seine Henker geführt: Er starb am 6. August 1942 um 16.40 Uhr „auf Befehl des Reichsführers-SS und Chefs der Deutschen Polizei“ (Himmler), wie es in der standesamtlichen Urkunde heißt, am Galgen im Arrestbunker des KZ-Hauptlagers Neuengamme. Gwizdek wurde 29 Jahre alt.
Der damalige Leiter der „Politischen Abteilung“ im KZ Neuengamme, der Kriminalsekretär Otto Apenburg, unterrichtete drei Wochen später das zuständige „Sonder-Standesamt Neuengamme“, dass er „über diesen Sterbefall aus eigener Wissenschaft unterrichtet sei“. Solche eigens eingerichteten Sonder-Standesämter gab es für alle Konzentrationslager im Reichsgebiet, um nach außen die hohen Todeszahlen zu verschleiern. Gwizdek wurde am 15. August 1942 („16.35 bis 17.50 Uhr“) im Krematorium Hamburg-Ohlsdorf eingeäschert, die sterblichen Überreste anschließend auf den Friedhof Hamburg-Ohlsdorf gebracht. Die „Politische Abteilung“ in Neuengamme, die Vertretung der Gestapo im KZ, meldete die Exekution an das RSH, die Angehörigen des Opfers erhielten Mitteilung über den Todesfall und die Akte konnte geschlossen werden.
Für Johann Ziolkowski vermerkte das Melderegister in Varel zunächst seinen „Abzug“ für den 30. September 1941, also elf Tage nach seiner Verhaftung durch die Gestapo in Varel. Endgültig „abgemeldet“ wurde er am 24. Februar 1943 mit der Bemerkung „Haft“. Offenbar blieb die Stadtverwaltung in Varel ohne weitere Kenntnis über seinen tatsächlichen Verbleib. Dokumente im Archiv des Internationalen Suchdienstes (International Trade Service, ITS) in Bad Arolsen geben Gewissheit über sein weiteres Schicksal: Der knapp 20jährige wurde von der Staatspolizei Wilhelmshaven am 31. Juli 1942, zehn Monate nach seiner Verhaftung in Varel, als „politischer Schutzhäftling“ in das bei Weimar errichtete KZ Buchenwald überstellt. Im Einlieferungsdokument ist als Grund vermerkt: „Verkehr mit einer deutschen Frau“. Ziolkowski erhielt die Häftlingsnummer 8209 und wurde dem Block 15 im KL zugeteilt. Die „Häftlingseigentumsverwaltung“ in Buchenwald registrierte als seinen persönlichen Besitz bei der Einlieferung: Arbeitsanzug, 1 Paar Schuhe, Strümpfe, 1 Hemd, 1 Unterhose sowie einen Geldbetrag von 1 Reichsmark.
Ziolkowski hatte nach seiner Einlieferung nur noch wenige Tage zu leben. Am 6. August 1942 bestätigte er mit seiner persönlichen Unterschrift noch einmal einen Zu- und Abgang von jeweils einer Reichsmark. Diese Unterschrift war sein letztes Lebenszeichen: Am 10. August 1942 um 15.35 Uhr starb er den „Erstickungstod“, wie es in der Sterbeurkunde des Standesamtes Weimar (Nr. 1575/42) heißt. Auf den sonstigen Personaldokumenten Ziolkowskis aus der KZ-Lagerverwaltung ist für diesen Tag lediglich der Begriff „Überführung“ bzw. „Transport“ vermerkt. Aus seinem Block 15 meldete der damalige „Blockälteste“ (Funktionshäftling) namens Möller am 13. August 1942 der Effektenverwaltung des KZ, dass „der Verstorbene keinerlei Gegenstände oder Schriftstücke im Block hinterlassen hat“.
Die Gedenkstätte Buchenwald teilte dem Verfasser mit: „Im sogenannten Totenbuch von Buchenwald, für das alle vorliegenden Quellen zu den in Buchenwald gestorbenen Häftlingen auswertet wurden, wird Ziolkowski mit der Angabe ‚Erstickungstod‘, 10.8.1942 geführt. Die Angabe beruht auf der auch Ihnen vorliegenden standesamtlichen Beurkundung. Auf den lagerzeitlichen Dokumenten findet sich nur die Angabe ‚überführt‘, überall ohne Zusatz. Da das ‚überführt‘ am 10.8.1942 mit dem Datum auf der Sterbeurkunde übereinstimmt, ist es sehr wahrscheinlich, dass Z. exekutiert wurde und in diesem Fall das ‚überführt‘ dafür steht. Die Exekutionen fanden zu diesem Zeitpunkt im Krematoriumshof statt. ‚Erstickungstod‘ ist die übliche Eintragung für Tod durch Erhängen. Block 15 war der Block für polnische Häftlinge, er hatte sonst keine spezielle Funktion.“ Wo genau die sterblichen Überreste von Johann Ziolkowski bestattet wurden, ist unbekannt.
4. Zwei weitere Festnahmen im September 1941 im Ortsteil Varel-Streek
Die Verhaftungsaktion in der Achternstraße blieb an diesem Tage nicht die einzige Aktivität der Wilhelmshavener Gestapo-Beamten in Varel, wie ebenfalls in einer Gestapo-Tagesmeldung vom 26.9.1941 dokumentiert ist: „Am 19. September 1941 wurde die Ehefrau Else Luttkau, geborene Breves, geboren am 20.11.1915 in Büppel, verheiratet, evangelisch-lutherisch, wohnhaft in Streek bei Varel, wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen vorläufig festgenommen. Die L. hatte sich mit den im Kriegsgefangenenarbeitskommando Streek untergebrachten serbischen Kriegsgefangenen unterhalten, ihnen einen Brief zugeschoben und sie nachts um 0 Uhr am Lager besucht. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Nach Abschluss der Ermittlungen wird sie dem zuständigen Gericht zwecks Einleitung eines Strafverfahrens überstellt.“6 Vor welchem Gericht Frau Luttkau stand und welches Strafmaß verkündet wurde, ist nicht überliefert.
Noch ein weiterer Fall im zeitlichen Umfeld und mit Bezug zu Varel ist dokumentiert: Am 27. September 1941, verhaftete die Polizei in Oberbayern auf Amtshilfeersuchen der Gestapo Wilhelmshaven eine junge Varelerin, die ebenfalls des „verbotenen Umgangs“ mit den serbischen Kriegsgefangenen im Arbeitskommando Streek bezichtigt worden war. Sie wurde nach Wilhelmshaven überstellt. In der Gestapo-Tagesmeldung vom 7.11.1941 ist zu lesen: „Die Ehefrau Josefine Dirkmann, geborene Schroer, geboren 8.6.1916 in Rheine, verheiratet, Reichsbürgerin, römisch-katholisch, wohnhaft in Streek bei Varel Nr. 27, wurde auf Veranlassung der hiesigen Dienststelle in Dankerting/Oberbayern wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen vorläufig festgenommen und am 30.10.1941 nach hier mit Sammeltransport überstellt. Die Dirkmann hat sich mit den im Arbeitskommando Streek bei Varel untergebrachten serbischen Kriegsgefangenen verschiedentlich unterhalten, ihnen Briefe geschrieben, sich mit einem Kriegsgefangenen auf dessen Arbeitsstelle getroffen und eines Nachts die Kriegsgefangenen in ihrem Lager aufgesucht. Sie wird dem zuständigen Gericht zwecks Erlass eines Haftbefehls und Einleitung eines Strafverfahrens vorgeführt.“7 Einige Monate später berichtete die Gestapo über den weiteren Verlauf: „Die von der Geheimen Staatspolizeistelle Wilhelmshaven am 27.9.1941 wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen vorläufig festgenommene Ehefrau Josefine Dirkmann (…) wurde vom Amtsgericht Wilhelmshaven am 25.3.1942 zu einer Gefängnisstrafe von 5 Monaten verurteilt.“8
5. Die Abschreckungsfunktion der Gestapo-Übergriffe und die Funktion von Denunziationen
In der gleichgeschalteten Presse wurde immer wieder exemplarisch über die Repressionsmaßnahmen gegen „Volksgenossen“ berichtet, die das „Kontaktverbot“ gegenüber den ausländischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen missachteten, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Zu den Verhaftungen in der Achternstraße wie auch der Frau im Ortsteil Streek findet sich in der Vareler Tageszeitung eine kurze Notiz – ohne genauere Datums- oder Personenangaben. Der Hintergrund dürfte den damaligen Zeitgenossen allerdings bekannt gewesen sein, da solche Vorfälle hinter vorgehaltener Hand Stadtgespräch waren. Auch wenn in dieser Meldung nur „Kontakt zu Kriegsgefangenen“ genannt wurde, was in Streek auch zutraf, bezog sich der allgemeine Hinweis auf Varel aber auch auf die Achternstraße.
Wie dargestellt, gerieten Opfer nicht zwangsläufig in die Fänge des NS-Verfolgungsapparates. Das von Zeitgenossen in der „Oral History“ zur NS-Zeit immer wieder gezeichnete Szenario eines allgegenwärtigen Terrorapparates – „die Gestapo sah und hörte alles“ – war zumeist nur eine Rechtfertigung für obrigkeitshöriges und angepasstes Verhalten. Das galt selbst dort, wo z. B. die Denunzianten durchaus einen gewissen Spielraum gehabt hätten, der NS-Staatspolizei nicht willfährig zuzuarbeiten. Auch in Wilhelmshaven, damals noch Staatspolizei-Leitstelle, gab es nur eine Handvoll Gestapo-Beamte. Sie waren mit den vielen aus Berlin zugewiesenen Aufgaben – u.a. Verfolgung von politischen Gegnern, Deportation der Juden oder Disziplinierung der „fremdvölkischen“ Arbeiter – überfordert. Eine flächendeckende Kontrolle der Bevölkerung mit eigenen Beamten kam kaum zustande. Als Terrorinstrument konnte sie nur deshalb effizient arbeiten, weil „deutsche Volksgenossen“ oder auch Funktionäre der örtlichen NSDAP–Gliederungen der Gestapo zuarbeiteten. Fast alle Anzeigen wegen „verbotenen Umgangs mit Ausländern“ kamen aus der örtlichen Nachbarschaft und wurden den lokalen Polizei- oder Parteidienststellen gemeldet. Der NS-Ortsgruppen- oder Kreisleiter, Bürgermeister oder der jeweilige Landrat leiteten diese Denunziationen an die Gestapo weiter.
Alle Beteiligten auf der Täterseite – im dargestellten Fall z. B. der Kaufmann der Firma Heinen, der Vareler NSDAP-Ortsgruppenleiter oder der NSDAP-Kreisleiter Flügel, vor allem natürlich auch die Beamten der Wilhelmshavener Gestapo-Dienststelle – kannten die Verfügungen aus Berlin. Sie alle wussten, was den Denunzierten drohte, die eines solchen „Vergehens“ beschuldigt wurden.
Ihre Opfer, soweit sie eine Haft im Konzentrationslager überlebten bzw. als Ausländer doch noch der „Sonderbehandlung“ entgingen, litten später zeitlebens an den Folgen der Haft und ihrer Begleitumstände. Die Denunzianten konnten in den meisten Fällen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft ihr Leben unbehelligt weiterführen, im Allgemeinen wurde vor Ort schamhaft über solche Dinge geschwiegen. Der hier beschriebene Vorfall war in Varel nach 1945 über Jahrzehnte in Vergessenheit geraten, bis Recherchen des Verfassers sowie ein Zeitungsbericht von Hans Begerow in der „Nordwest-Zeitung“ vom 2. August 2008 den Fall erstmals wieder bekannt machten.
Quellen:
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Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg, Gestapo-Tagesmeldungen Wilhelmshaven.
- Mitteilung Manfred Zahn 16.4.2008 (Sammlung des Verfassers).
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Haftentschädigungsakte Alma Koch, Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg, REP 405, Akz. 2011/013, Nr. 3353.
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Schreiben von Sophie Zahn an das Amtsgericht Varel 30.11.1946 (Sammlung des Verfassers).
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Ausländerkartei Varel, Archiv Heimatverein Varel, ID Nr. 354 VS a07 und Nr. 1299 VS a07 für Gwizdek und Ziolkowski.
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Mitteilung Gedenkstätte Neuengamme – mit 5 Anlagen – vom 20.3.2009 (Sammlung des Verfassers).
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Mitteilung Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück vom 10.6.2008 und 06.07.2009 (Sammlung des Verfassers).
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Mitteilung Internationaler Suchdienst Arolsen vom 18.03.2010 mit 12 Anlagen (Sammlung des Verfassers).
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Mitteilung Gedenkstätte Buchenwald vom 26.03.2010 (Sammlung des Verfassers).
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Bericht von Hans Begerow in der „Nordwest-Zeitung“ vom 2.8.2008.
Text und Copyright: Holger Frerichs, Hoher Weg 1, 26316 Varel. Forschungsstand: 22.4.2017.
1 Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg, Bestand 289, Nr. 186, Abbildung montiert aus Blatt 500 und 503.; vgl. auch Günter Heuzeroth: Unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus 1939-1945. Die im Dreck lebten Bd. IV/1, Oldenburg 1993, S. 368.
2 Die folgenden Angaben für die beiden polnischen Zwangsarbeiter wurden der im Archiv des Heimatvereins Varel überlieferten und von Peter Haukenfrers digitalisierten „Ausländerkartei Varel 1939-1945“ (Meldebehörde der Stadt Varel) entnommen.
3 Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Berlin/Bonn, 2. Aufl. 1986, S.126.
4 Vgl. Bernhard Strebel: Das KZ Ravensbrück. Geschichte eines Lagerkomplexes. Paderborn 2003, S.117-121.
5 Suhren war Sohn eines Textilhändlers in Varel, besuchte dort die Mittelschule und begann anschließend eine Lehre als Kaufmann, später eine Ausbildung als Dekorateur. Danach nahm er eine Stelle im Lager einer Baumwollweberei in Zetel an. Anfang der 1930er Jahre wurde er arbeitslos und kehrte zu seinen Eltern nach Varel zurück, wo er im Geschäft mitarbeitete. Suhren war verheiratet und hatte drei Kinder.Er trat im Dezember 1928 in die NSDAP (Mitgliedsnummer 109561) und im Oktober 1928 in die Vareler SA ein, bevor er im Oktober 1931 in die SS (Mitgliedsnummer 14682) wechselte.
Bei der 24. SS-Standarte „Ostfriesland“ in Wilhelmshaven betätigte er sich in der Verwaltung und im Stab. Am 15. Februar 1934 wurde er von der SS hauptamtlich eingestellt. In den Jahren 1937/38 besuchte er einen NS-Verwaltungslehrgang und eine Schule für SS-Führer in Dachau. Ab 1. April 1941 wurde Suhren offiziell im KL Sachsenhausen eingesetzt und dort am 3. Mai 1941 als Zweiter Schutzhaftlagerführer vom Personalhauptamt der SS bestätigt. Am 1. September 1942 erfolgte seine Versetzung zum Frauen-KL Ravensbrück als Lagerkommandant. Er blieb dies bis zur Befreiung des KL Ravensbrück durch die Alliierten im April 1945. Suhren wurde 1950 wegen seiner Verbrechen zum Tode verurteilt und am 12. Juni 1950 in der Nähe von Baden-Baden hingerichtet.
6 Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg, Bestand 289, Nr. 186, Blatt 504.
7 Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg, Bestand 289, Nr. 186, Blatt 589f.
8 Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg, Bestand 289, Nr. 187, Blatt 757.