Jever, Hamburg: Die Ermordung des Kindes Anneliese Drost im Jahre 1941

Verfasserin: Hildegard Thevs, Stolpersteine Hamburg, Stand 15.12.2017 (Quelle: http://www.stolpersteine-hamburg.de)

 

Anneliese Drost, geb. 23. März 1941 in Jever/Oldenburg, ermordet 14. Dezember 1941 im Kinderkrankenhaus Hamburg-Rothenburgsort

Anneliese Drost wurde am 23. März 1941 als zweite Tochter des Kaufmanns Hans-Wilhelm Drost, geb. 16.10.1894, und seiner Ehefrau Gerda Catharine Sophie, geb. Oetken, geb. 26.2.1905, in Jever in Oldenburg/Friesland geboren. Ihr Vater stand zu der Zeit als Rittmeister im Dienst der Wehrmacht. Anneliese wurde mit einer Spina bifida, einem „offenen Rücken“, geboren. Diese Fehlbildung wurde gleich nach Annelieses Geburt im Sophienstift in Jever operiert.

Bei der Spina bifida handelte es sich um eine meldepflichtige Behinderung, die dem „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ in der Kanzlei des Führers in Berlin angezeigt werden sollte. Die Hebamme, Gertrud Heikes, füllte am 25. März 1941 den Meldeschein so weit aus, wie es ihr als Hebamme oblag, und reichte ihn an den zuständigen Amtsarzt, Medizinalrat Fritz Hildebrandt, weiter. Die Angaben lauteten: Das Geburtsgewicht habe 3250 g betragen, Anneliese sei drei Wochen zu früh geboren worden, mit einer normalen Geburtsdauer von fünf Stunden nach einem vorzeitigen Blasensprung, ohne einen Atemstillstand. Ähnliche Fälle von Behinderung seien in der Familie bis dahin noch nicht beobachtet worden.

Anneliese Drost wurde zu ihrer Familie in der Großen Burgstraße 2 entlassen. Der Amtsarzt ergänzte zwei Monate später den Meldebogen an den „Reichsausschuss“, auf dem er auch nach seiner „Einschätzung einer zu erwartenden Heilung oder Besserung“ gefragt wurde. Zunächst bewertete sie Fritz Hildebrandt als fraglich, dann verneinte er sie. Hinsichtlich der voraussichtlichen Beschränkung „der Lebensdauer des Kindes durch den Zustand“ gab er an, dass sie fraglich, aber anzunehmen sei. Was eine bereits erfolgte Behandlung anginge, schrieb er: „Wurde sofort nach der Geburt operiert. Nach der Operation 3 Tage lang Beinlähmung bds., die jetzt zurückgeht.“ Die detaillierten Fragen nach der bisherigen körperlichen und geistigen Entwicklung beantwortete er als regelrecht und der gegenwärtige Stand entspreche dem Alter. Da war Anneliese Drost zwei Monate alt. Mit dieser positiv lautenden Prognose wurde sie vom Gesundheitsamt für den Landkreis Friesland in Jever dem „Reichsausschuss“ gemeldet.

Der nächste belegte Schritt in dem Verfahren ist ein Feldpostumschlag vom 31. Juli 1941 des Vaters an den Rechtsanwalt Friedrich Christians in Jever, dessen Inhalt jedoch fehlt. Die Einbeziehung eines Rechtsanwalts durch den Kindsvater im „Reichsausschussverfahren“ war ungewöhnlich. Hier war der besondere Anlass die Tatsache, dass der Vater des Kindes nicht am Ort war. Rittmeister Drost befand sich zu der Zeit in Siedlce, Distrikt Warschau, im Generalgouvernement. Friedrich Christians war ein Schwager des Ehepaars Drost und wurde in der Familie in vielen Fällen um Rat gefragt.

Inzwischen zeigte sich bei Anneliese Drost die Bildung eines Wasserkopfes, eine zweite meldepflichtige Fehlbildung. Der Leiter des Gesundheitsamtes in Jever wandte sich am 12. August 1941 wegen einer Einweisung Annelieses in eine „Kinderfachabteilung“ (KFA) an den „Reichsausschuss“ und erhielt mit Schreiben vom 28. August 1941 den Hinweis, Annelieses Aufnahme in der KFA der Heil- und Pflegeanstalt Hamburg Langenhorn könne jederzeit nach Absprache mit dem dortigen Abteilungsleiter, Dr. Friedrich Knigge, erfolgen. Das Schreiben war unterzeichnet von Richard von Hegener, dem Hauptstellenleiter in der Kanzlei des Führers und Mitinitiator des „Reichsausschussverfahrens“. Am 1. September bat Medizinalrat Hildebrandt Friedrich Knigge um einen Aufnahmetermin.

Statt in der staatlichen Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn wurde Anneliese Drost am 10. September 1941 im privaten Kinderkrankenhaus Rothenburgsort aufgenommen, vermutlich auf Empfehlung eines Freundes der Familie Drost. Anneliese Drost ist nach unserem heutigen Kenntnisstand das einzige „Reichsausschusskind“ aus dem Landkreis Friesland, das in eine Hamburger Kinderfachabteilung überwiesen wurde.

Bereits einen Tag nach ihrer Aufnahme wurde Annelieses Vater die Rechnung für Kostgeld für die Zeit vom 10. bis 19. September in Höhe von 47,50 RM zugestellt. Er reichte sie wegen der Kostenübernahme an das Gesundheitsamt weiter, das sich seinerseits an den „Reichsausschuß“ wandte. Dieser verwies auf den letzten Runderlass der RMdI (Reichsministerium des Innern) vom 30.5.1941, wonach die Fürsorge zuständig sei. Diese lehnte ihre Zuständigkeit ab, woraufhin sich Medizinalrat Hildebrandt am 3. Oktober 1941 erneut an den „Reichsausschuss“ wandte und unter Hinweis auf die Tätigkeit von Annelieses Vater als Hauptmann bei der Wehrmacht um Kostenübernahme bat. Ausnahmsweise erklärte sich daraufhin von Hegener bereit, die Hälfte der „Gesamtkosten zunächst bis zur Dauer eines halben Jahres“ zu übernehmen.

Über Anneliese Drosts Ergehen in Rothenburgsort existieren keine Unterlagen. Anneliese kam auf die Station der Ärztin Ursula Petersen. Diese verabfolgte ihr, drei Monate nach ihrer Aufnahme, eine Überdosis Luminal, an deren Folgen sie eine Lungenentzündung entwickelte, die zu ihrem Tod am 14. Dezember 1941 führte. Als Todesursachen gab Ursula Petersen „Multiple Missbildungen, Kreislaufschwäche, Bronchopneumonie“ an. Annelieses Mutter meldete ihr Ableben zwei Tage später beim Standesamt Rothenburgsort. Dort wurde als Todesursache lediglich „Kreislaufschwäche“ eingetragen. Anneliese Drost wurde neun Monate alt. Sie war nicht getauft. Ihr Begräbnisort ist unbekannt.

Quellen

StaH 213-12 Staatsanwaltschaft Landgericht NSG, 0017-001; 332-5 Standesämter, 1145+503/1941; 352-5 Gesundheitsämter – Todesbescheinigungen, Sta 4b 503/1941; Mitteilungen von Gerhard Genters, 3.5.-27.6.2016; Matthias Nistal, Niedersächsisches Landesarchiv, Gesundheitsämter Rep 630 Akz. 2009/009 Nr. 1, E-Mail 11.5.2016); Ingo Harms, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, E-Mail vom 12.5.2016.