Varel: Der Lebensweg der „arisch verheirateten“ Jüdin Johanne Titz geb. Weinberg und ihres Ehemannes Hermann Titz

von Holger Frerichs (Schlossmuseum Jever)

Hinweis: Die Situation von in sog. „Mischehen“ lebenden Ehepartnern wird außerdem in folgenden Artikeln dagestellt:

 

Inhaltsverzeichnis

Johanne Weinberg wurde am 26. Dezember 1901 in Detern (Ostfriesland) geboren. Sie war eines von fünf Kindern des jüdischen Ehepaars Wolf und Rose Weinberg, die 1905 ihren Wohnsitz aus Ostfriesland nach Varel verlegten. Wolf Weinberg war in Varel seit 1911 Besitzer des Grundstücks Schüttingstr. 13 und betrieb dort u.a. einen Produktenhandel. Die jüngste der Weinberg-Geschwister heiratete am 28. März 1929 in Varel den am 1. März 1896 in Rabishau (Kreis Löwenberg, Schlesien) geborenen nichtjüdischen Automobilkaufmann Hermann Titz. Ihr Mann, damals Betriebsleiter einer KFZ-Handelsfirma in Dessau, hatte seine berufliche Tätigkeit nach Varel geführt, wo zu jener Zeit noch die Hansa-Automobilwerke ihren Sitz hatten und wo er schließlich Johanne Weinberg kennen lernte. Johanne folgte ihrem Ehemann zunächst nach Dessau, dann Wittenberg und schließlich nach Reichenbach in Schlesien. Die Ehe blieb kinderlos. In Schlesien machte die Familie Titz Mitte der 1930er Jahre die Bekanntschaft der ledigen Klara Hübner (geboren 10. April 1914), die nach dem Krieg als „Pflegetochter“ dem Ehepaar Titz nach Varel folgte und dieses dort in seinen letzten Lebensjahren betreute.

Verfolgung des „arischen“ Ehemanns Hermann Titz während der NS-Zeit

Als Ehemann einer Jüdin erlitt Hermann Titz nach der Machtübertragung an die Nazis fortgesetzte Diskriminierungen und Verfolgungen sowie schließlich die Zerstörung seiner beruflichen und sozialen Existenz, die er nur durch eine Scheidung hätte abwenden können. Er machte 1956 im Rahmen der sog. Wiedergutmachungsverfahren folgende Angaben über diese Zeit:

Von 1927 bis Anfang 1935 war ich Betriebsleiter der Firma Julius Grabe in Dessau, Kraftfahrzeughandel und Reparaturwerkstatt. (…) Als Betriebsleiter dieses Betriebes hatte ich die ersten Differenzen mit den Nationalsozialisten. Da in Dessau bekannt war, dass meine Ehefrau Jüdin im Sinne der Nürnberger Gesetze war und dass ich Orts- und Bezirksvorsitzender des Gewerkschaftsbundes der Angestellten für den Bezirk Anhalt war. (…). Ich bin dann im Frühjahr 1935 (…) freiwillig aus dem Betrieb ausgeschieden. Anschließend übernahm ich dann einen Werkmeisterposten bei der Firma Rölecke in Wittenberg. Diese Tätigkeit habe ich nach etwa ¼ Jahr in Übereinstimmung mit dem Betriebsinhaber aufgegeben, da dieser mir erklärte, er könne den Ehemann einer Jüdin in seinem Betrieb nicht beschäftigen, da er selbst NSKK-Führer [NSKK = Nationalsozialistisches Kraftfahrer-Korps, H.F.] sei. Während meiner Tätigkeit in Wittenberg wurde ich Ende April 1935 von mehreren SA-Männern verhaftet, nachdem diese bei mir eine Haussuchung vorgenommen hatten. (…). Die SA-Leute, die mich (…) verhafteten, brachten mich zunächst nach Dessau, am folgenden Tag nach Berlin. In Berlin wurde ich in einer abgeschlossenen Zelle in einem Keller untergebracht. Um was für ein Gebäude es sich handelte, weiß ich nicht mit Bestimmtheit. Ich glaube mich aber zu erinnern, dass das Gebäude in Karlsbad [Karlshorst?, H.F.] lag. Dort wurde ich (…) von SA-Leuten schwer misshandelt. Am 29.05.1935 wurde ich dann von dem Krankenhaus, in das ich nach der Misshandlung eingeliefert worden war, entlassen, nachdem meine Frau die Kosten für den Aufenthalt im Krankenhaus überwiesen hatte. (…).

Im Herbst 1935, soweit ich mich erinnern kann, war es am 01.09.1935, habe ich dann auf eigene Rechnung den Betrieb in Reichenbach/Schlesien übernommen. (…). Den Betrieb habe ich bis etwa Ende 1938 ungestört ausführen können. (…). Am 20.01.1939 erfolgte dann die Sicherungsanordnung des Ober-Finanzpräsidenten Schlesien – Devisenstelle (…). Ich verweise insbesondere darauf, dass die Sicherungsanordnung damit begründet wurde, dass meine Ehefrau Jüdin ist. (…). Auf Grund dieser Sicherungsanordnung wurde ein Verwalter vom Ober-Finanzpräsidenten eingesetzt, unter dessen Kontrolle ich den Betrieb selbstständig weiterführen durfte. (…). Als später, meiner Erinnerung nach im Jahre 1943, die Organisation ‚Todt‘ die Errichtung von wehrwichtigen Bauten in die Wege leitete, wurde mein gesamter Betrieb ohne besondere Entschädigung der Organisation ‚Todt‘ übergeben. (…). Ich erhielt jetzt für meine Mitarbeit einen Stundenlohn von 80 Reichspfennig für jede (…) Arbeitsstunde und musste von diesem Verdienst, der mir aus meinem Betrieb berechnet wurde, meinen persönlichen Unterhalt bestreiten. Außerdem erhielt ich für meine Frau, als diese nach ihrer Entlassung aus dem Konzentrationslager im Betrieb mitarbeitete, für deren Mitarbeit eine Entschädigung von monatlich 100 Reichsmark. (…). Zu der von mir erhobenen Judenvermögensabgabe bemerke ich noch ergänzend: (…) Meine Ehefrau war nicht Miteigentümerin. Trotzdem wurde von mir die Judenvermögensabgabe (…) erhoben, (…). An Judenvermögensabgabe habe ich insgesamt bezahlt etwa 11.000 Reichsmark. (…).“

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Johanne Titz: Zwangsarbeitslager und Diskriminierungen

Johanne Titz, geborene Weinberg (links), mit ihrer Pflegetochter Klara Hübner (Aufnahme 1961, Archiv Heimatverein Varel).
Johanne Titz, geborene Weinberg (links), mit ihrer Pflegetochter Klara Hübner (Aufnahme 1961, Archiv Heimatverein Varel).

Johanne Titz entging den im Herbst 1941 beginnenden Deportationen in die Ghettos und Vernichtungslager der Nazis nur, weil sie Partner in einer sogenannten „Mischehe“ war. Sie wurde aber von der Gestapo in Schlesien im April 1944 verhaftet und in das bei Breslau gelegene jüdische Zwangsarbeitslager Klettendorf, Außenstelle Faulbrück, verschleppt. Dort blieb sie bis zum 16. Oktober 1944. Klara Hübner machte über die Haft von Johanne Titz 1958 folgende Aussagen:

Ich wohnte früher in Schlesien und habe dort im Jahre 1935 das Ehepaar Titz kennen gelernt, welches damals in Reichenbach in Schlesien wohnte. (…). Mir war bekannt, dass Frau Titz Jüdin war und ich hatte auch erfahren, dass sie in ein Lager gekommen war. Nachdem ich vorher in einer anderen Fabrik tätig gewesen war, arbeitete ich später während des Krieges in der Weberei von F. G. Alter in Peterswaldau. In dieser Weberei waren auch Häftlinge aus dem jüdischen Zwangsarbeitslager Faulbrück beschäftigt. Eine Bekannte von mir (…) gehörte zum Bewachungspersonal des Lagers. Durch sie erfuhr ich, dass Frau Titz sich ebenfalls in dem Zwangsarbeitslager Faulbrück befand. (…). Ich habe Frau Titz, während sie in dem Zwangsarbeitslager inhaftiert war, nicht selbst gesehen und gesprochen, denn sie war nicht zur Arbeit in der Weberei eingeteilt, sondern wurde mit Innenarbeiten innerhalb des Lagers beschäftigt. Ich habe aber die Verbindung mit ihr durch einige ungarische Judenmädchen aufgenommen, die in dem Zwangsarbeitslager inhaftiert waren und die ich in der Weberei anzulernen hatte. Ich kann daher nur bestätigen, dass Frau Titz, geborene Weinberg, von Anfang April – Ende Oktober 1944 (…) inhaftiert gewesen ist.“

Über die Zeit nach ihrer Entlassung gab Frau Titz 1958 zu Protokoll: „Die Stadt Reichenbach durfte von mir nicht mehr verlassen werden. Sonntags durfte ich, wenn dieser Tag im Betrieb arbeitsfrei war, die Wohnung nicht verlassen. Ich war zur Tragung des Judensterns verpflichtet. Jeden Werktag hatte ich mich zunächst bei der Polizei zu melden, später wurde ich mehrmals in der Woche von der Polizei daraufhin kontrolliert, ob ich an der Arbeitsstelle anwesend war. Außer dem Weg von Wohnung zur Arbeitsstelle und zurück durfte ich mich nicht im Freien aufhalten. Das Betreten von Geschäften und Verkaufsstellen war mir verboten. Meine Lebensmittelkarten enthielten weder Fleisch noch Butter, auch die Abschnitte für etwaige Sonderzuteilungen wurden vorher abgeschnitten oder ungültig gemacht. (…).“

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„Sonder-Ausweis“ für Johanne Titz, geborene Weinberg, ausgestellt vom Kreisamt Friesland im August 1946
(Niedersächsisches Landesarchiv Oldenburg, Repro Frerichs).

Als Frau Titz Haftentschädigungsansprüche geltend machte, sah sich der Beamte bei der Entschädigungsbehörde des Verwaltungsbezirkes Oldenburg dazu veranlasst – offenbar noch in bester Kenntnis der NS-Maßnahmen gegen jüdische Bürger – unter Verwendung von NS-Begriffen auf folgenden Sachverhalt bezüglich des „Judensterns“ hinzuweisen: „Die Antragstellerin ist in kinderloser Ehe mit einem Arier verheiratet. Sie war nach der damals geltenden Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden vom 19.9.1941 nicht zum Tragen des Judensterns verpflichtet.“ Als Zeugin wurde noch einmal Klara Hübner vorgeladen:

Als sie [Frau Titz, H.F.] im Herbst 1944 aus dem Lager zurückkam, hat sie an zwei Mänteln den Judenstern getragen. Sie hat mir erzählt, die Polizei hätte sie aufgefordert, den Judenstern zu tragen. (…). Die Antragstellerin durfte vom Herbst 1944 bis zum 8. Mai 1945 auch nicht die Reichsbahn benutzen. Sie durfte auch keine Kinos und öffentlichen Veranstaltungen besuchen. Ich habe die Antragstellerin gelegentlich aufgefordert, mit mir ins Kino zu gehen. Sie hat das aber abgelehnt mit der Begründung, dass es ihr verboten sei. Die Antragstellerin war damals im Büro ihres Mannes beschäftigt, das etwa 15 bis 20 Minuten von der Wohnung entfernt lag. Sie hat mir wiederholt gesagt, sie dürfe nur von der Wohnung ins Büro gehen und zurück. Sie ging in kein Geschäft und machte keine Besorgungen, weil sie es nicht durfte. (…). Mir ist auch bekannt, dass die Antragstellerin keine Kleiderkarte erhielt. Von ihren Lebensmittelkarten waren die Butterabschnitte schon abgeschnitten. Sie erhielt auch die Sonderzuteilungen nicht. Ihre Kennkarte war mit einem großen ‚J‘ gekennzeichnet. (…). Ich bin mit der Familie Titz zusammen auf die Flucht gegangen. Wir sind zunächst nach Westfalen gekommen. Da die Antragstellerin ihr Elternhaus hier in Varel hatte, ist sie mit ihrem Ehemann nach Varel gegangen. Die Eheleute Titz haben mich mitgenommen. (…).“

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Einzige Überlebende der Familie Weinberg

Klara Hübner vor dem Weinberg-Haus in der Schüttingstraße 13, von 1937 bis 1942 auch Jüdisches Altenheim in Varel (Aufnahme 1955, Archiv Heimatverein Varel).
Klara Hübner vor dem Weinberg-Haus in der Schüttingstraße 13, von 1937 bis 1942 auch Jüdisches Altenheim in Varel (Aufnahme 1955, Archiv Heimatverein Varel).

Nach dem Ende der NS-Herrschaft im Mai 1945 und ihrer Ausweisung aus Schlesien, das jetzt polnisches Territorium war, kehrte das Ehepaar Titz in Begleitung von Klara Hübner im Frühjahr 1946 über Westfalen nach Varel zurück. (Die Anmeldebestätigung des Einwohnermeldeamtes in Varel trägt das Datum 27. Juni 1946, nach eigenen Aussagen hielt sich das Ehepaar aber schon seit April 1946 wieder in Varel auf.) Hermann Titz berichtete über diesen Zeitraum: „Von Mai 1945 bis April 1946 musste ich mit meiner Frau Kraftfahrzeuge für die russische Besatzungsarmee instandsetzen. Bezahlung erfolgte von keiner Seite. Lediglich hin und wieder gab es einige Lebensmittel. 1946 wurden wir ausgewiesen und kamen über Hohenlimburg/Westf. hier nach Varel.“

Die in Varel seit Ende des 17. Jahrhunderts bestehende jüdische Gemeinde war von den Nazis bis 1942 vollständig vertrieben, die Synagoge in der Osterstraße 10 bereits im November 1938 zerstört worden. Auch von ihren Familienmitgliedern lebte bei der Rückkehr von Frau Titz nach Varel niemand mehr, drei Geschwister, eine Schwägerin und ein Neffe waren von den Nazis ermordet worden:

Der Vater Wolf Weinberg war schon 1919 in Varel verstorben, ihre Mutter Rose im November 1935. Die ledige Schwester Julie Weinberg hatte nach Beginn der Nazi-Herrschaft bereits im Frühjahr 1933 Varel verlassen und war über Genua nach Palästina ausgewandert. Sie erkrankte während der Überfahrt aber schwer und starb am 15. Oktober 1933, kurze Zeit nach der Ankunft, im Kibbuz Beit Alfa im Norden Palästinas. Der Bruder Adolf Weinberg war nach seiner Heirat im Jahr 1924 nach Jever verzogen und arbeitete dort im Viehhandel. 1933 wurde in Jever sein Sohn Wolf Weinberg geboren. Adolf Weinberg musste im März 1940 im Rahmen der von der geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Wilhelmshaven durchgeführten regionalen „Entjudungsaktion“ seinen Wohnort Jever verlassen und lebte zuletzt in einem der „Judenhäuser“ in der Reichshauptstadt Berlin. Am 29. Januar 1943 wurden Adolf Weinberg, seine Ehefrau und der 10 Jahre alte Sohn Wolf mit dem „27. Osttransport“ Berliner Juden in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort direkt nach der Ankunft vergast. Die beiden in Varel verbliebenen Geschwister von Johanne, Ernst und Jette Weinberg, beide ledig, hatten seit 1937 im elterlichen Haus Schüttingstr. 13 ein Jüdisches Altenheim eingerichtet.

Am 21. Oktober 1941 deportierte die Gestapo Wilhelmshaven von dort die beiden Geschwister und einige Bewohner über Emden und Berlin in das Ghetto Litzmannstadt (Lodz) im besetzten Polen. Ihr Hab und Gut, das sie in Varel zurücklassen mussten, wurde von der Reichsfinanzverwaltung (vertreten durch das Finanzamt Varel) entschädigungslos „eingezogen“. Mobiliar und Hausrat wurden im Auftrag des Finanzamtes durch den Auktionator Gustav Sasse bei einer öffentlichen Auktion am 5. November 1941 im „Deutschen Haus“  (Neumarktplatz) an etwa 280 Vareler Bürger versteigert. Aufgrund der entsetzlichen Lebensbedingungen im Ghetto Lodz starb Jette Weinberg dort am 17. November 1941 im Alter von 45 Jahren, ihr Bruder Ernst Weinberg vier Monate später, am 27. März 1942, im Alter von nur 42 Jahren.

Nach der ersten Deportation vom Oktober 1941 wurden im Jüdischen Altenheim von der Gestapo Wilhelmshaven zwei Dutzend jüdische Bürger aus Emden untergebracht, die im Juli 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurden. Danach meldete die Staatspolizeistelle Wilhelmshaven ihren Zuständigkeitsbereich (Land Oldenburg, Ostfriesland) als „judenrein“. Auch das letzte Hab und Gut dieser Verschleppten versteigerte der Reichsfiskus auf einer öffentlichen Auktion in Varel, die diesmal direkt in der Schüttingstraße stattfand. Die Finanzverwaltung konfiszierte nun das Grundstück sowie Gebäude und vermietete das leer stehende Haus ab November 1942 an den Rossschlachter Paul Schubert. Erwähnt sei noch, dass nach der Deportation der letzten Bewohner manche bis heute unbekannte Vareler „Volksgenossen“ die Gunst der Stunde nutzten und alles nicht niet- und nagelfeste Inventar (Fenster, Türen, Waschkessel usw.) in ihren Besitz brachten.

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Die Reaktionen in Varel nach dem Krieg und die „Wiedergutmachung“

Johanne und Hermann Titz waren nach ihrer Ankunft in Varel vom Wohnungsamt Varel zunächst zwei Räume in der Schüttingstraße 13, dem Elternhaus von Johanne, zugewiesen worden. Nach ihrer Rückkehr bemühte sich Johanne Titz gemeinsam mit ihrem Ehemann um „Wiedergutmachung“ für das erlittene Unrecht. Es ging – neben der Rückgabe des Grundstücks – um finanzielle Kompensationen für Schäden an Leib und Leben, Entschädigungen für Haftzeiten, Ausgleich für Eigentums- und Vermögensschäden, Schäden am beruflichen Fortkommen usw., die sie, ihren Mann sowie ihre ermordeten Geschwister Adolf, Jette und Ernst Weinberg betrafen. Die für die „Wiedergutmachung“ gewählte Form der langwierigen Einzelfall-Prüfung, die auch dem Ehepaar Titz eine unter den Umständen der NS-Zeit nur schwer zu erfüllende Beweispflicht auferlegte, führte aus Sicht der Opfer zu oftmals schwer verständlichen und nicht zu akzeptierenden Verzögerungen bei der Bearbeitung der Anträge. Zudem sahen sie sich, obwohl psychisch und physisch noch unter den Nachwirkungen der Verfolgung leidend, zu einem fortlaufenden umfangreichen und belastenden Papierkrieg mit den deutschen Behörden genötigt.

„Heißes Eisen“ in Varel in den ersten Jahren nach der NS-Herrschaft war vor allem die Rückgabe bzw. Entschädigung für das durch Vareler Bürger auf den erwähnten Auktionen „günstig“ erworbene bewegliche Eigentum der Familie. Die Versteigerungsprotokolle der Auktionen von 1941 und 1942, in denen penibel auch alle Erwerber des ehemals jüdischen Eigentums genannt werden, sind in den Wiedergutmachungsakten überliefert. In der Vareler Bevölkerung, und es waren nicht nur die vielen „ehemaligen“ Nazi-Aktivisten und NS-Sympathisanten, stieß das Ehepaar Titz damit auf Unverständnis, Ablehnung, eine Mauer des Schweigens und Verdrängens bis hin zu kaum verhülltem Hass. Mancher „arische Volksgenosse“ schien offenbar überrascht, doch noch mit Überlebenden des Holocaust konfrontiert zu werden und offenbar nun Rechenschaft ablegen zu müssen über eventuelle Bereicherungen am Eigentum verschleppter und ermordeter jüdischer Mitbürger während der NS-Zeit.

Frau Titz wurde mit Bescheid des Kreis-Sonderhilfsausschusses Friesland rückwirkend ab 01.11.1948 eine 40%-Erwerbsminderung zuerkannt und für die auf die Verfolgung zurückzuführenden chronischen Gesundheitsschäden eine kleine Rente bewilligt, hinzu kam freie Heilfürsorge. Das Ehepaar Titz erhielt zudem noch mehrere Einmal-Entschädigungszahlungen für die sonstigen Anspruchsgründe in eigener Sache bzw. als Erben der übrigen Geschwister Weinberg. Das Restitutionsverfahren zur Schüttingstraße 13 ist umfänglich dokumentiert durch Archivalien im Niedersächsischen Landesarchiv Oldenburg sowie im Bundesamt für offene Vermögensfragen in Berlin, in dem die Akten der Oberfinanzdirektion Hannover lagern. Verlangten die ehemals Verfolgten die Herausgabe von Gütern, Wertgegenständen und Geldbeträgen, die ihnen durch Organe des Deutschen Reiches entzogen worden waren, standen ihnen vor Gericht als „Prozesspartei“ die Beamten der Oberfinanzdirektion gegenüber. In manchen Fällen kam es daher vor, dass dieselben Beamten, die vorher während der Nazi-Zeit die Liquidation und den Einzug jüdischen Vermögens betrieben hatten, nun mit den Rückerstattungsanträgen der Enteigneten beschäftigt waren.

Am 15. März 1947 ernannte die britische Besatzungsverwaltung Hermann Titz zum Treuhänder des Grundstücks, dem nun auch die Einkünfte seiner Untermieter zuflossen. Als Untermieter hatte das Ehepaar u.a. Klara Hübner aufgenommen. Am 25. Juni 1947 musste die Militärregierung in Oldenburg dem Amtsgericht Varel, das zuvor unter Vorsitz des Amtsgerichtsrates Kuhlmann im Zusammenhang mit Rechtsstreitigkeiten ein Urteil zugunsten des Schlachters Schubert gefällt hatte, noch einmal ausdrücklich mitteilen, dass sich das Grundstück unter alliierter Kontrolle befand, Hermann Titz zum Treuhänder für das Objekt bestellt wurde und Beschlüsse des deutschen Amtsgerichtes keinerlei Bedeutung hatten. Gleichzeitig wies die Militärregierung darauf hin, dass sie über Informationen verfüge, „(…) dass das Grundstück unter der Tatsache, dass Schubert es bewohnt, leidet. Unter diesen Umständen ist es meine Absicht, dem gegenwärtigen Mieter Nachricht zu geben, das Grundstück sofort zu räumen.“ Am 10. August 1947 musste Schubert das Haus verlassen.

Anfang 1948 gingen die bisher von der britischen Besatzungsmacht ausgeübten Befugnisse auf das Niedersächsische Landesamt für die Beaufsichtigung gesperrten Vermögens über (Geschäftsbereich des Niedersächsischen Ministeriums der Finanzen). Nach Einrichtung des Landesamtes wurden Bezirksämter eingerichtet mit Außenstellen für die Landkreise und kreisfreien Städte. Das Bezirksamt Oldenburg für die Beaufsichtigung gesperrter Vermögen verfügte über Außenstellen u.a. in Varel. Dieser zugeordnet waren sog. Treuhänderbüros, die für die tatsächliche Beaufsichtigung der Objekte zuständig waren. Am 19. August 1948 berief die Außenstelle Varel des Landesamtes Hermann Titz als Treuhänder ab und forderte ihn auf, die Verwaltung des Grundstücks Schüttingstraße 13 wieder an das Finanzamt Varel zu übergeben. Titz weigerte sich, dieser Aufforderung Folge zu leisten, da er nach seiner Ansicht noch von der Militärregierung berufen worden sei und die Berechtigung des Landesamtes zu seiner Abberufung bestritt. In einem Schreiben von Johanne Titz an das Zentralamt für Vermögensverwaltung für die britische Besatzungszone in Bad Nenndorf vom 20. August 1948 hieß es dazu u.a.: „Entweder der ungesetzliche Vermerk im Grundbuch [gemeint ist die grundbuchamtliche Eigentumsübertragung an die Reichsfinanzverwaltung, H.F.] wird gelöscht und ich werde wieder Eigentümer oder der bisherige Zustand [Verwaltung durch Ehemann, H.F.] bleibt bestehen.“ Noch am gleichen Tage stellte Frau Titz den formellen Antrag auf Rückerstattung des Grundstücks.

Ende August 1949 beschwerte sie sich in einem Schreiben an das Zentralamt für Vermögensverwaltung in der Britischen Zone noch einmal darüber, dass „der größte Teil der damaligen Beamten heute noch hier im Amt sitzen würde und selbstverständlich alles tut, um eine ordnungsgemäße Rückerstattung unmöglich zu machen. Ich beantrage hiermit in aller Form, dass mit der Bearbeitung und Entscheidung meiner Rückerstattungs-Ansprüche, wenn schon deutsche Stellen, dann keine ehemaligen Nationalsozialisten beauftragt werden, auch wenn diese entnazifiziert sein sollten. Der Gefferth [Rudolf Geffarth, Varel-Langendamm, H.F.] der hiesigen Außenstelle ist ehemaliger Nazi (…). Auch sein unmittelbarer Vorgesetzter, der Leiter der Bezirksstelle des Niedersächsischen Landesamts für die Beaufsichtigung gesperrten Vermögens in Oldenburg, Herr Rasch, scheint ehemaliger PG [Parteigenosse, H.F.] zu sein, denn er beantwortete eine diesbezügliche Beschwerde am (…) in reinster Nazi-Tonart. Der derzeitige hiesige Grundbuchrichter, Amtsgerichtsrat Kuhlmann, ist selbstverständlich 100%iger ehemaliger Nazi. (…).“

Erst Mitte der 1950er Jahre kam das Rückerstattungsverfahren zu seinem Ende. Nach einem Beschluss des Wiedergutmachungsamtes beim Landgericht Oldenburg vom 5. Oktober 1950 folgte in der nächsten Instanz der Beschluss der 2. Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Osnabrück vom 3. Februar 1953, der schließlich rechtskräftig wurde und im Juni 1954 zur Rückübertragung der Schüttingstraße 13 an Johanne und Hermann Titz führte (Eintragung ins Grundbuch).

Die Eheleute Titz lebten in Varel zuletzt recht zurückgezogen. Hermann Titz verstarb am 17. Dezember 1967, Johanne Titz am 6. April 1990. Die Eheleute sind, gemeinsam mit der Alleinerbin Klara Hübner, die am 24. Februar 2005 starb, auf dem evangelischen Friedhof in Varel, Oldenburger Straße, bestattet. Frau Titz hatte bereits selbst vor ihrem Tod einen Teil des Gartens an die Stadt veräußert (Neubau der Turnhalle an der Grundschule). Frau Hübner verkaufte dann den Rest des Grundstücks und das Haus in der Schüttingstraße 13 und zog selbst noch bis zu ihrem Tod in eine Eigentumswohnung in Varel.

Grab von Hermann und Johanne Titz, geborene Weinberg, und Klara Hübner auf dem evangelisch-lutherischen Friedhof in Varel, Oldenburger Str. (Foto: Frerichs)
Grab von Hermann und Johanne Titz, geborene Weinberg, und Klara Hübner auf dem evangelisch-lutherischen Friedhof in Varel, Oldenburger Str. (Foto: Frerichs)

Grab von Wolf und Rose Weinberg, Eltern von Johanne Titz, auf dem jüdischen Friedhof Varel (Foto Frerichs).
Grab von Wolf und Rose Weinberg, Eltern von Johanne Titz, auf dem jüdischen Friedhof Varel (Foto Frerichs).

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Auf Einzelnachweise im Text wurde verzichtet. Die Geschichte des Jüdischen Altenheims in der Schüttingstraße 13, die Schicksale der Mitglieder der Familie Weinberg und der Bewohner des Heimes, der Ablauf der Deportationen 1941/42 sowie die „Wiedergutmachung“ nach 1945 sind mit umfangreichen Quellennachweisen dokumentiert in:

  • Frerichs, Holger: Spurensuche: Das jüdische Altenheim in Varel 1937-1942: Die Familie Weinberg, die 40 Bewohner der Schüttingstraße 13 und die Deportationen 1941/42.- Jever: Hermann Lüers, 2012, 160 S., zahlr. Abb. – ISBN 978-3-9815257-0-0, 15,90 €
  • http://www.ewetel.net/~holger.frerichs/index-Dateien/Page555.htm

Copyright: Holger Frerichs, 26316 Varel, Hoher Weg 1. Version: 13.5.2016