Was uns eine Grabplatte auf dem Jüdischen Friedhof Varel erzählt

Nach vier Jahrzehnten wurde an Salomon und Fanny Wolff aus Emden erinnert

Abb. 1: Salomon Wolff und Ehefrau Fanny, geborene Aaron.
Foto 1930er Jahre. Sammlung Frerichs.

Das Ehepaar Wolff

Salomon Wolff wurde am 29. August 1864 als Sohn eines Handelsmannes in Aurich geboren. 1897 heiratete er Fanny Aaron. Seine Frau, geboren 25. Dezember 1874 in Hamburg, stammte ebenfalls aus einer Händlerfamilie. Nach der Eheschließung lebte das Paar in Emden. Dort wurde 1899 ihr einziges Kind, die Tochter Resi (Recha), geboren.

1900 eröffnete Salomon Wolff eine Manufakturwaren-Handlung. Später kam ein Geschäft für Damen-, Herren- und Kinderbekleidung hinzu. Nach 1933 litt das Familien-Geschäft unter den antisemitischen Boykottmaßnahmen der Nazis. 1936 musste Salomon Wolff unter dem Zwang der Verhältnisse sein Geschäft an einen Emder Bürger verpachten, später folgte der Verkauf.

Die Tochter Resi heiratete den Auricher Leo Sternberg, aus der Ehe ging eine Tochter Irmgard hervor, das einzige Enkelkind von Salomon und Fanny Wolff. Resi und Irmgard konnten 1937 zum Ehemann in die USA emigrieren, der Deutschland bereits ein Jahr zuvor verlassen hatte.

Nach der Pogromnacht im November 1938 mussten Salomon und Fanny Wolff in das jüdische Altenheim in Emden ziehen. 1940 erfolgte der Zwangsverkauf ihres Wohnhauses in Emden an das Wasser- und Schifffahrtsamt. Am 22. Oktober 1941 deportierte die Staatspolizeistelle Wilhelmshaven fast alle Heimbewohner*innen in Emden über die Zwischenstation Berlin in das Getto Lodz (damals Litzmannstadt) im annektierten Teil Polens.

Oktober 1941: Von Emden nach Varel

Das Ehepaar Wolff blieb zunächst mit einigen weiteren Bewohnern des jüdischen Altenheims Emden von der Deportation verschont. Sie kamen in das kleinere jüdische Altenheim in Varel, Schüttingstraße 13, das zuvor fast vollständig von seinen bisherigen Bewohner*innen geräumt worden war. In der Schüttingstraße mussten sich nun über zwei Dutzend pflegebedürftige alte Menschen die wenigen Zimmer teilen. Die sanitären und hygienischen Verhältnisse waren äußerst angespannt. Die Menschen erhielten die seit Kriegsbeginn für Juden vorgesehenen eingeschränkten Lebensmittelrationen und durften diese nur in ausgewählten Geschäften und zu bestimmten Zeiten besorgen. Es gab für die Bewohner*innen eine abendliche Ausgangssperre, außerhalb des Heimes mussten sie den „Judenstern“ tragen und auch das Heim war außen entsprechend gekennzeichnet.

Mai 1942: Sterbefall und Bestattung von Salomon Wolff in Varel

Salomon Wolff starb in der Schüttingstraße am Mittag des 16. Mai 1942 im Alter von 77 Jahren. Als amtliche Todesursache wurde „Gehirnentzündung“ (Enzephalitis) eingetragen. Eine Behandlung im Krankenhaus fand nicht statt, einen „jüdischen Krankenbehandler“ gab es in Varel nicht. Ärztlichen Beistand erhielt Salomon Wolff vom Vareler Arzt Dr. Diedrich Behrens. Dieser erinnerte sich 1959 nur vage: „Ich kann mich zwar dunkel erinnern, dass in der Schüttingstraße ein Heim für ältere Juden eingerichtet war, und ich kann mich darauf besinnen, dass ein älterer jüdischer Mann, der meiner Erinnerung nach (…) aus Emden stammte, dort war und von mir behandelt worden ist.“ Salomon Wolff wurde auf dem jüdischen Friedhof in Varel-Hohenberge bestattet. Die näheren Umstände der Beerdigung sollten erst viele Jahre nach dem Ereignis  aktenkundig werden. Im Herbst 1942 erreichte die in den USA lebenden Angehörigen die Nachricht vom Ableben Salomon Wolffs. Im September erschien die Traueranzeige in der in New York verlegten deutschsprachigen Zeitung „Aufbau“.

Juli 1942: Deportation von Fanny Wolff und Tod im Ghetto Theresienstadt

Am 23. Juli 1942 wurden die verbliebenen 23 Bewohner*innen des Vareler Altenheimes, darunter Fanny Wolff, über Bremen und Hannover ins Getto Theresienstadt (heute: Terezin, Tschechische Republik) deportiert. Sie waren zu diesem Zeitpunkt die letzten noch in  Ostfriesland und dem Land Oldenburg lebenden Menschen jüdischen Glaubens. Aus dem Transport mit zusammen über 900  Menschen überlebten nur 76 Personen die Lebensbedingungen in Theresienstadt.

Fanny Wolff starb dort am 15. Februar 1943 im Alter von 68 Jahren. Ihre ärztliche Todesbescheinigung aus Theresienstadt weist als Todesursache „Darmkatarrh“ aus. Über ihr Schicksal erlangten die Angehörigen in den USA keine Kenntnis, da Nachrichten aus Theresienstadt nicht mehr ins Ausland gelangten. Im Juni 1945 erschien im „Aufbau“ eine Suchanzeige, doch erst im Oktober 1945 bestand Gewissheit, dass Fanny Wolff nicht zu den Überlebenden zählte. Das Sterbedatum war zu diesem Zeitpunkt unbekannt. In der Traueranzeige im „Aufbau“ ist daher zu lesen, dass Fanny Wolff „im Jahre 1942 in Theresienstadt verstorben ist“.

Abb. 2: Suchanzeige nach Fanny Wolff in
“Aufbau”, New York, 1. Juni 1945.
Abb. 3: Sterbefall-Anzeige für Fanny Wolff in “Aufbau”, New York, 19. Oktober 1945.

Bei der amtlichen Feststellung des Todesdatums (Amtsgericht Varel) konnte 1951 mangels weiterer Informationen nur festgelegt werden werden: „Die seit Juli 1942 verschollene Witwe Fanny Wolff geb. Aron, geboren am 25.12.1874, zuletzt wohnhaft in Varel i.O., wird für tot erklärt. Als Zeitpunkt ihres Todes wird der 31. August 1942 24 Uhr festgestellt.“ Erst 1957 stellte das Sonderstandesamt des Internationalen Suchdienstes Arolsen aufgrund nun bekannter Dokumente aus Theresienstadt eine Beurkundung des tatsächlichen Sterbedatums aus.

1958 und 1982/83: Nachforschungen zur Grabstelle

Im März 1958 fragte der Schwiegersohn aus den USA bei den Behörden in Varel an, wo Salomon Wolff genau beerdigt und ob dort ein Grabstein vorhanden sei. Die Vareler Gemeindeverwaltung konnte lediglich mitteilen, das Grab sei nicht durch eine feste Steinkante eingefasst und auch nicht mit einem Grabstein versehen. Die genaue Lage des Grabes könne daher nicht festgestellt werden: „Der einzige Mann, der es uns hätte sagen können, war der Kuhlengräber Wilhelm Bunjes aus Hohenberge. Er ist aber im Jahre 1948 verstorben. Seine Schwiegertochter konnte uns wohl annähernd die Grabstelle zeigen aber der genaue Standort kann nicht festgestellt werden, zumal in den 16 Jahren, die nach dem Tode ihres Schwiegervaters verstrichen sind, alles verwachsen ist.“ Die Bemühungen der Familie führten demnach zu keinem Ergebnis.

Im März 1982 wandte sich die Familie erneut an die Vareler Verwaltung. Diese befragte nun auch Heinz Bunjes, den Sohn des ehemaligen Friedhofwärters, und antwortete u.a.: „Herr Bunjes kann sich erinnern, dass er mit seinem inzwischen verstorbenen Vater die letzte Beisetzung in aller Stille durchgeführt hat. Aufzeichnungen oder Unterlagen über die Beisetzung sind nicht vorhanden. Ebenfalls ist der Name des Beigesetzten nicht bekannt. Nach Auskunft der Mutter von Herrn Bunjes könnte es sich jedoch um die Beisetzung von Herrn Salomon Wolff gehandelt haben, weil der Zeitpunkt der Beisetzung mit dem Sterbedatum identisch ist. Die Lage der Grabstelle kann angegeben werden. Ein Grabstein ist dort nicht vorhanden.“ Die Witwe Fanny oder andere Bewohner*innen des Jüdischen Altenheimes hatten demnach im Juli 1942 nicht an der Bestattung von Salomon teilnehmen können.

Leo Sternberg gab nun eine Grabplatte in Auftrag, die vom Vareler Steinmetzmeister Erwin Künzel angefertigt und im Januar 1983 auf dem Friedhofsgelände über der Grabstelle von Salomon Wolff platziert wurde. Auf dem Stein findet sich neben dessen Lebensdaten noch eine kurze Inschrift zum Gedenken an die Ehefrau Fanny. Der Schriftzug „gest. 1943 in einem Konzentrationslager“ ist heute auf dem Friedhof Hohenberge der einzige Hinweis auf die Shoah.

Abb. 4: Im Januar 1983 gesetzte Grabplatte für Salomon Wolff mit Gedenkinschrift
für Ehefrau Fanny auf dem Jüdischen Friedhof Varel-Hohenberge. Foto: Holger Frerichs.

Nachkommen des Ehepaar Wolff in den USA

Resi und Leo Sternberg lebten mit der Tochter Irmgard, die später den Namen Frances Hodes trug, zuletzt in Baton Rouge im US-Bundesstaat Louisiana. Leo Sternberg starb dort am 4. Juni 1983 im Alter von 88 Jahren. Seine Ehefrau Resi folgte ihm am 10. März 1985, sie wurde 85 Jahre alt. Frances Hodes hatte zwei Söhne. Ihr Mann starb 1977. Als Vermächtnis ihrer ermordeten Familienangehörigen betrachtete sie ihre Mitarbeit im regionalen Holocaust Memorial Resource and Education Center of Florida in Maitland.

Abb. 5: Leo und Resi Sternberg mit Tochter Irmgard (Frances). Foto 1976. Familienarchiv Hodes, USA.

Im Herbst 1990 besuchte Frances Hodes die Stadt Emden, um an der Einweihung des Mahnmals für 465 ermordete Emder Juden teilzunehmen. Sie berichtete u.a.: „Es gab ein Bedürfnis in mir, dies zu tun. Vielleicht weil ich älter bin (…) und ich habe Zeit, über die Jahre und die verlorenen 52 Mitglieder unserer Familie nachzudenken. Ich fühlte, dass es an der Zeit war, Kaddisch im tiefsten und bedeutungsvollsten Sinne zu sagen. Die Zugfahrt von Amsterdam dauerte fünf Stunden. (…). Jetzt haben wir die Grenze passiert und ich muss in einen deutschen Zug umsteigen. (…). Und während ich gemütlich fahre, kann ich nicht anders, als an den Zug zu denken, der meine Großmutter nach Theresienstadt brachte.“ Die Einweihung des Mahnmals gab ihr Hoffnung. Sie schrieb: „Ich bin traurig, aber als ich hinter mich schaue, sehe ich Hunderte von Menschen – 500 oder 600, meist junge – und ich stelle fest, dass dies sowohl eine Warnung als auch eine Erinnerung ist, dass solche Gräueltaten nicht wieder passieren dürfen. Wegen dieser jungen Leute frage ich mich, ob es hier doch etwas Gutes gibt. (…). Es ist jedoch das Wesentliche, dass sie die Verantwortung dafür erkennen, verstehen und tragen, dass ein solcher Horror nie wieder auf dieser Erde geschehen wird. (…). Vor allem wünsche ich mir Frieden und Verständnis in dieser Welt.“

Frances S. Hodes, vormals Irmgard Sternberg, verstarb 2013 in Florida im Alter von 90 Jahren.

Hinweise / Quellen:

  • Familiendokumente Wolff / Sternberg / Hodes werden seit 2015 im Orange County Regional History Center in den USA aufbewahrt.
  • Im Oktober 2021 wurden in Emden zwei „Stolpersteine“ für Salomon und Fanny Wolff vor dem Haus Martin-Faber-Straße 4 verlegt.
  • Die Schüttingstraße 13 in Varel, letzter Aufenthaltsort von Salomon und Fanny Wolff vor dem Ableben bzw. der Deportation, ist heute im Besitz einer gemeinnützigen Stiftung. Teile werden zu einer außerschulischen Bildungsstätte und Gedenkort („Weinberghaus“) umgestaltet.
  • Der Verfasser dankt Stuart Lee Hodes, Urenkel von Salomon und Fanny Wolff, für freundliche Unterstützung bei der Recherche.

Weitere Informationen zum Jüdischen Friedhof in Varel-Hohenberge: https://www.groeschlerhaus.eu/erinnerungsorte/varel/varel-juedischer-friedhof/

Weitere Informationen zum Jüdischen Altenheim in Varel (Weinberghaus): https://www.weinberghaus.eu/

Copyright Text und Fotos/Repros: Holger Frerichs, Hoher Weg 1, 26316 Varel. 20.01.2023