Gedenken zur „Reichspogromnacht“ am 9. November um 17.00 Uhr vor dem GröschlerHaus in Jever, Große Wasserpfortstraße 19/ Georg Wagner-Kyora
Heute gedenken wir der Brandstiftung der Jeverschen Synagoge am 9. November vor 79 Jahren, ausgeführt von wenigen namentlich bekannten Tätern. Einer davon wurde Jahrzehnte später darüber interviewt, so dass der konkrete Ablauf, der auf einer internen Befehlskette der Nazipartei beruhte, geklärt werden konnte. Und hierbei geschah etwas Erstaunliches. Während dieses Zeitzeugenberichts aus der Täter-Perspektive langte der Mann an sein Bücherregal und zog vor den Augen des Interviewers, Hartmut Peters, ein Büchlein von Martin Luther heraus und präsentierte es dem Verdutzten. Denn auf die Frage, ob er eigentlich Schuldgefühle hege, weil er die Jeversche Synagoge zerstört hatte, antwortete der Brandstifter, er habe sich dann und immer an die Worte Luthers erinnert gefühlt, man solle die Synagogen anzünden.
Heute, am 9. November im 500. Jahr des Beginns der Reformation, müssen wir uns deshalb erneut mit diesen hetzerischen Spätschriften des Reformators befassen. Hatte Luther tatsächlich das Anzünden der Synagogen und das Vertreiben der Juden verlangt? Und war das noch knapp vierhundert Jahre später bekannt im Sinne einer gängigen Alltagsweise? Taugte diese dazu, als Schutzbehauptung zu dienen, um die eigentliche Verantwortung für die unfassbare Brandstiftung eines jüdischen Gotteshauses als Täter vor sich selbst rechtfertigen zu können, ja, diese Tat noch vierzig Jahre später auf gleichem Wege rechtfertigen zu wollen? Was der Interviewer mir, noch immer staunend als Erschreckendes in der Konfrontation mit den Berichten der Nazi-Täter wiederberichtete, verlangt nach Klärung. Wie kommen üble Mordbrenner dazu, sich selbst, denjenigen, der einen unvorstellbaren Rechtsbruch mittels brutalster Gewalt betrieben hatte, durch den Verweis auf eine höhere Autorität entlasten zu wollen, auf einen Autorität zumal, die immer Geltungskraft hatte, also Luther? Welche gesellschaftlichen Konventionen erlauben diesen erneuten Tabubruch, der uns alle, die wir staunend so etwas zur Kenntnis nehmen, unsererseits zur Rechtfertigung und mehr noch zur Klärung bringt? Luther war doch ein großer Theologe, ein Sprachkünstler und institutioneller Erneuerer sowie ein charismatischer Gesellschafter mit anhaltender wohltuender Wirkung bis heute. Wie nur trennen wir unsere religiöse, unsere gelehrte und unsere nationale Tradition von derjenigen der NS-Täter und Gegenwartsnazis ab, welche unbelehrbar ihre Geschichten erzählten und ungehemmt auf den wichtigsten Traditionsbindungen herumtrampeln, die unser Land auszeichnen? Nur in der Nahsicht auf die Geschichte können wir richtigstellen, welche Traditionen uns tatsächlich bestimmen!
Hierzu gehört es, alle jene Schutzbehauptungen zurückzuweisen, mit denen die NS-Täter und ihre Wiedergänger immer wieder und mehr oder minder erfolgreich versucht haben unter das sie schützende Dach der Mehrheitsgesellschaft zu schlüpfen, also dorthin zu gelangen, wohin sie nicht hingehören.
Eine gewisse Distanz der Geschichte gegenüber gehört dazu. So unterstreicht der Luther-Biograf Heinz Schilling das ironisch gemeinte Urteil seiner Fachkollegen, Luther sei nun einmal drei Jahre zu spät gestorben, so dass er seinen Zeitgenossen und uns seine anti-jüdischen Schriften aus den Jahren 1543 bis 1546 nicht mehr habe ersparen können. Es handelt sich um jene hetzerisch missglückten Schriften seiner letzten drei Lebensjahre, die insgesamt von einem erschreckenden Kontrollverlust in der Beschreibung der deutschen Judenheit geprägt sind. Hatte Luther in seiner Anfangszeit, also 25 Jahre zuvor, noch wohlwollend über die Glaubensnachbarn gesprochen und geschrieben, zeigte er sich am Ende seines Lebens grundlos rachsüchtig gegenüber jenen, die sich wohl nicht mehr bekehren ließen, Katholiken wie Juden. Das evangelische Kirchenneugründungswerk schien dem Reformator mehr und mehr bedroht, was eine hellsichtige politische Lageeinschätzung darstellte. Aber in den erneut extrem unruhigen Zeiten der 1540er Jahre wendete er diese Bedrohungsangst auch gegen jene, die gar nicht darauf einwirken konnten, weil sie politisch machtlos waren und selber des permanenten Schutzes durch die Obrigkeit bedurften.
Seinen rhetorisch mehr und mehr entfesselten Antijudaismus, müssen wir aber von einem rassistischen Antisemitismus abgrenzen, wie er sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte und sich dann im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts in Deutschland durchsetzte. Nur dieser Rassismus zielte auf die Auslöschung der physischen Existenz aller Juden ab. Der Antijudaismus Luthers hingegen wollte deren „Bekehrung“. Aber folgten sie nicht seinem Wunsch, Christen zu werden, sollten sie vertrieben werden.
Der Historiker Heinz Schilling hat betont, dass diese extrem ausgrenzende Haltung Luthers im Heiligen Römischen Reich Mitte des 16. Jahrhunderts eine radikale Besonderheit gewesen war. Denn in jenen Regionen Deutschlands, in denen Juden traditionell ansässig sein konnten, lebten sie unter dem Schutz der jeweiligen Landes- und Stadtherren, letztlich des Kaisers, friedlich und auskömmlich. Eine „jüdische Renaissance“, ähnlich fruchtbar wie jene des christlichen Humanismus, stabilisierte die Gemeiden und erweiterte ihren Bewegungsradius. Jüdische Intellektuelle wagten als Diplomaten zwischen den Konfessionen den Blick über den Tellerrand und suchten den Schulterschluss im Lichte der Neuzeit. Aber dem stand Luther entgegen, denn einen gleichberechtigten Austausch vermied er – leider. Zu erklären ist diese ablehnende Haltung durch sein Nichtwissen, sein Nicht-Kennenlernen-Wollen der Anderen. Er hoffte unverdrossen, alle einer einigenden Gesamtkirche zuführen zu können. Luther kannte keine religiöse Toleranz, solange sie ihm nicht gewährt wurde. Und diese Haltung erstreckte sich auch auf die Juden. Ließen sie sich bekehren, waren sie Freunde, taten sie das nicht, wurden sie zu Gegnern.
Luthers Nicht-Wissen über die Juden speiste sich aus einer regionalen Besonderheit seiner Herkunft: Denn gerade weil in Sachsen traditionell keine Juden leben durften und die sächsischen Herzöge ihnen sogar das Durchreiserecht ab und an gesetzlich verwehrten, weil also auch Luther zeitlebens niemals Juden als Nachbarn, gar als Freunde hatte, entwickelte sich hier der politisch am weitesten intolerante und auf Verdrängung abzielende Atijudaismus: im Herzogtum und im Kurfürstentum Sachsen. War Sachsen ansonsten offen für die Reformation – für die Juden war es verschlossenes Terrain. Aber in den übrigen Reichsteilen herrschte Duldung und zuweilen auch ein wohltuender Aufschwung in den jüdischen Gemeinden Deutschlands. Luthers Verranntheit in den radikalen Antijudaismus war Bestandteil einer genuin sächsischen politischen Ausnahmeentwicklung und sie wurde in Deutschland nicht geteilt. Sie hat seinem Ansehen und demjenigen seiner Kirche mehr geschadet als viele andere Restriktionen, denn sie bereitete auch einem radikalisierten ideologischen Antikatholizismus den Boden, der seinerseits massive politische Entwicklungsstörungen zur Folge haben sollte. – Beide Konfessionen standen sich schließlich feindlich gegenüber und Kriege, in denen diese Haltung zementiert wurde, sollten folgen. Hier hätte ein liberaler, theologisch fundamentierter Projudaismus gravierende Fehlentwicklungen entschärfen und möglicherweise sogar vermeiden helfen können.
Und dennoch stieß Luthers Vereinnahmung als vorgeblicher Antisemit durch die Nationalsozialisten an unüberwindliche Grenzen, nämlich an jene ihrer Areligiosität. Luthers Wunsch einer „Bekehrung“ paste nicht zum rassistischen Antisemitismus und infolgedessen spaltete sich die evangelische Kirche in eine bekennende und in eine rassistische Kirche auf. Widerstand und Opposition waren die Folge in weiten Teilen der deutschen Christenheit, als die Nazis die Lufthoheit für zwölfeinviertel Jahre gewonnen hatten. Luther als Propagandabild und -stereotype der Nazis spielte demzufolge nur im Jahr 1933, im 450zigsten Geburtsjahr, eine bemerkenswerte Rolle. Danach verschwand diese Option einer Vereinnahmung von der Propagandabühne. Er wurde demzufolge auch nicht zur Rechtfertigung des reichsweiten Pogroms zur Synagogenvernichtung am 9. November 1938 bemüht.
Warum aber tat das dann der Jeversche Brandstifter noch Jahrzehnte danach hier in Jever? Wir können in diesem hilfesuchenden Verweis auf den vorgeblichen historischen Vorläufer des NS-Täters eine billige Strategie der Vereinnahmung unserer Traditionen unter das Dach der NS-Ideologie erkennen. Kann in der Interviewsituation die Mehrheitsgesellschaft mit NS-Propaganda konfrontiert werden, ist eine unmittelbare Zurückweisung aufgrund gesellschaftlicher Konvention nicht zu erwarten und dann wird die schweigende Gegenreaktion als Zustimmung gewertet. Aus dieser Falle entkommt kein Historiker, der Quellen sammelt. Sie sprechen ihre eigene Sprache und der Historiker ist dazu verpflichtet, diese zu verstehen, um sie zu erklären und dazu muss er sie zunähst einmal anhören und dies auch aushalten können.
Nicht in der verstehenden Quellenarbeit, wohl aber in unserem gesellschaftspolitischen Wirken können und müssen wir den alltagsweltlichen Verzerrungen unserer Traditionen immer unmittelbar entgegentreten. Wenn jemand sich erkühnt, sogar das Berliner Denkmal an die ermordeten Juden Europas zu schmähen und dann nicht aus seiner radikalen Verweigerungspartei ausgegrenzt oder gar ausgeschlossen wird, dann steht der Feind unserer Traditionen dort, wo das unwidersprochen hingenommen wird. Dann ist es angebracht, mit den Mitteln Lutherscher Rhetorik gegen jene vorzugehen, die frech und gewalttätig das Fundament unserer Republik zermeißeln, weil sie unsere Geschichte missachten und unsere Traditionen schmähen.
Indem wir jedes Jahr wieder uns an diesem Tag, dem 9. November, vor dieser Gedenktafel verneigen, zeigen wir, dass die Tradition zu kennen der einzige Weg ist, mit der Geschichte leben zu können.